Über Tim Raue muss man nicht viel erzählen, jeder kennt ihn – ob nun aus dem Fernsehen oder aus einem seiner zehn Restaurants, die er inzwischen als kulinarischer Berater betreut oder selbst betreibt. Tim Raue hat sich hochgearbeitet. Geboren wurde er in Kreuzberg, seine Jugend war nicht einfach. 1994 entdeckte er seine Leidenschaft zum Kochen, die er heute mit höchsten Ansprüchen betreibt.
Wir besuchten ihn in seinem Flaggschiff, dem mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten „Restaurant TIM RAUE“.

Mein/4: Sie sind alter Kreuzberger …

Tim Raue: Ja, irgendwann habe ich aber Deutsch gelernt.

Mein/4: Dann sind Sie jetzt nicht weit weg von der Heimat?

Tim Raue: Das war Zufall. Früher war das hier eine Galerie, wir hatten in den Räumlichkeiten ein Catering. Im Laufe des Abends habe ich zufällig den Hauseigentümer getroffen. Da hat er mich gefragt: „Hast du nicht Lust, hier ein Restaurant zu machen?“ Marie-Anne und ich hatten einige Tage davor beschlossen, uns selbstständig zu machen und so habe ich geantwortet: „Wenn wir es uns leisten können.“ Seitdem, das war 2010, sind wir hier.

Mein/4: Geplant war das Interview ganz anders, inzwischen haben die Corona-Maßnahmen uns fest im Griff. Das Restaurant ist geschlossen. Sie bieten mit Ihrem Zwei-Sterne-Restaurant einen Lieferservice an. Wie sind Sie auf die Idee gekommen? Auf dem Niveau bestimmt ein schwieriges Unterfangen? Haben auch andere Sternerestaurants diesen Weg gewählt?

Tim Raue: Das glaube ich nicht. Ich bin aber auch schon immer jemand gewesen, der sich sehr auf sich, beziehungsweise auf uns, fokussiert hat. Das Restaurant TIM RAUE mache ich ja zusammen mit meiner Geschäftspartnerin Marie-Anne Raue. Wir haben uns spätestens Anfang März Gedanken darüber gemacht, was wir tun können. Nach der Absage der ITB kündigte sich der Shutdown an.

Einige andere Restaurants haben gleich gesagt: „Hey, wir können liefern.“ Wir hielten das zunächst für schwierig. Wie soll ein Betrieb mit 37 Angestellten, der normalerweise für 100 Gäste am Tag zuständig ist, auf einmal sagen: „Das kannst du auch zu Hause haben!“ Das ist natürlich Bullshit und funktioniert nicht.

Wir sind dann für uns verschiedene Sachen durchgegangen, auch völlig irre Sachen. Es gab zum Beispiel die verrückte Idee, einen Koch mit Kellnern zu den Gästen nach Hause zu schicken, der dann gleich für sechs oder acht Leute alles zubereitet und serviert. Das ist natürlich völliger Blödsinn und hätte dem Social Distancing völlig widersprochen.

Wir haben dann für uns beschlossen, dass wir es einfach runterbrechen. Wir wollten einen Weg beschreiten, der natürlich geprägt ist von den Einflüssen eines Zwei-Sterne-Restaurants – von den Aromen, von der Produktqualität und so weiter. Hier können wir eben nicht à la minute arbeiten. Normalerweise werden pro Teller ein Dutzend verschiedene Komponenten heiß und kalt auf einem Teller angerichtet, dieser innerhalb von 30 Sekunden serviert und binnen zwei Minuten gegessen. Das ist beim Lieferservice natürlich nicht möglich. Unseren eigenen Weg haben wir dann ganz stringent verfolgt.

Mein/4: Wie ist die Resonanz?

Tim Raue: Naja, der März war hart. Niemand hat im Februar damit gerechnet, dass die ITB wegfällt, dass das Restaurant geschlossen wird. Das sind normalerweise die stärksten Wochen des Jahres. Der April hat sich dann gefangen. Gefangen heißt, dass wir zwar immer noch 60 Prozent Umsatzeinbußen hatten, aber wir uns immerhin bei 40 Prozent fangen konnten. Zusammen mit dem Kurzarbeitergeld muss ich sagen: „Ja, es ist scheiße, aber es ruiniert uns nicht.“

Mein/4: Was war der Moment, in dem Ihnen bewusst wurde, da rollt was Großes auf uns zu? Österreich?

Tim Raue: Der Blick nach Österreich ist auf jeden Fall der gewesen, der gepasst hat. Wobei, ich war am 25. Dezember in Hongkong. Ich bin dort umgestiegen, von einem meiner Restaurants auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Weg zu einem Pop-up-Restaurant auf den Malediven. In Hongkong haben mich viele Freunde darauf angesprochen: „Da rollt was Großes auf uns zu, irgendwas wie SARS.“ Ich habe mir nur gedacht: „Naja SARS war in Asien, was interessiert es uns …“

Aber dass die Welt stillstehen und das unser Leben so dermaßen beeinträchtigen würde, damit habe ich nicht gerechnet. Das habe ich auch ein wenig von mir geschoben. Da bin ich Pragmatiker: Wenn es vor der Tür steht, mache ich auf, aber ich mache mir keine Gedanken oder grüble nach dem Motto: „Was wäre, wenn die Erde untergeht.“

Mein/4: Gab es einen Moment der Schockstarre, einen Moment, in dem Sie sich erst mal sammeln mussten? Oder sofort weiter?

Tim Raue: Wir haben relativ schnell umgeschaltet. Wir wussten sofort: Wir wollen eine Woche zumachen. Die Mitarbeiter sollten sich psychisch darauf einstellen, dass sich ihre Arbeitsabläufe stark verändern würden. Und wir brauchten Zeit, um die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen. Von Drucksachen bis zu Verpackungsmaterial.

Mit Christian, meinem Küchendirektor, habe ich Portionsgrößen definiert – welche Gerichte können wir machen, haut das überhaupt hin? Man hat dann erste Ideen und stellt beim Kochen fest, dass haut überhaupt nicht hin. Klar war auch, wir können nicht solche Portionsgrößen machen wie im Restaurant, in dem wir acht Gänge servieren. Wir brauchen Sättigungsbeilagen, etwas, was wir im Restaurant überhaupt nicht verwenden. Da kommen 1.000 Entscheidungen auf einen zu. Zum Glück bin ich bei Entscheidungen im Bereich Essen jemand, der recht schnell Ja oder Nein sagen kann. Letztendlich hatten wir unseren Faden in der Hand, an dem wir uns entlanggehangelt haben.

Wir haben dann aufgemacht und mit den Lieferungen angefangen. In der zweiten Lieferwoche hatte ich dann einen Tag, an dem ich komplett raus musste, da lagen die Nerven blank. Das ist ja auch eine schwierige Situation für die Mitarbeiter, den Pfad, den sie hier in den letzten neun Jahren konstant gegangen sind, zu verlassen und sich umzustellen und umzuschalten. Es gibt da durchaus Parallelen zum Sport, wenn eine Mannschaft immer nur verliert, verliert, verliert und in die Abstiegszone kommt, dann fehlt Selbstbewusstsein, dann fehlt Entscheidungskraft, dann fehlen Stringenz und Willensstärke. Das mussten wir erst wieder wecken.

Mein/4: Dafür mussten Sie sich einen Tag rausnehmen?

Tim Raue: Das musste ich definitiv. Ich habe bemerkt, ich falle zurück in Verhaltensmuster von vor über 13 Jahren. Wenn ich damals wütend war, habe ich einen Topf genommen und in die Ecke gefeuert. Die Nummer funktioniert nicht, da habe ich keine Lust drauf, die anderen schon gar nicht. Deshalb musste ich hier einfach mal kurz raus.

Mein/4: Wie sieht Ihre Zukunftsplanung aus? Womit rechnen Sie?

Tim Raue: Nur noch flexibel, für jedes Szenario mehrere Gedankengänge. Wir haben ja inzwischen schon einige Erleichterungen, die Geschäfte sind wieder offen, und man sieht, dass das lokale Leben in die Stadt zurückkehrt. Der Lebensmittel-Einzelhandel läuft, der Obst- und Gemüsehändler in meinem Kiez macht den dreifachen Umsatz. Aber Shoppen beziehungsweise dieser Konsumrausch, in dem wir in den letzten zehn Jahren gelebt haben, der ist total abgeebbt.

Ich würde jetzt gar nicht darauf drängen, dass die Restaurants ganz schnell wieder aufmachen. Ich würde erst mal das allgemeine Leben wieder hochfahren, was ja in dieser Maiwoche passiert. Wir haben unsere Pläne für die Wiederöffnung im Kopf, inklusive Auflagen und werden direkt am 16. Mai zum Dinner wieder aufmachen. Wir werden auch das Liefergeschäft am Wochenende erst mal weiterführen.

Für uns war es wichtig, solidarisch zu bleiben und die Mitarbeiter bei uns zu behalten. Und vor allem zu gucken, dass wir Geld verdienen, damit wir ihnen mehr bezahlen können als das Kurzarbeitergeld, was ihnen zusteht. Weil von 60 Prozent seines Gehaltes kann man in unserer Branche nicht leben.

Mein/4: Wie ist es bei den Kollegen? Gibt es da schon welche, die die Türen für immer geschlossen haben?

Tim Raue: Bis jetzt habe ich noch von keinem gehört. Ich glaube auch, dass es im Moment nicht passieren wird. Die Mitarbeiter sind in Kurzarbeit, die Inhaber verhandeln mit ihrem Vermieter, man hofft auf Fördermittel.

Ich glaube, dass das eher passiert, wenn wir wieder aufmachen dürfen. Wenn Enthusiasmus herrscht und die Leute denken, dass es wie früher wird. Das wird es aber nicht. Berlin ist gerade in den letzten fünf Jahren in der Gastronomie so stark gewachsen, aber nicht wegen der Berliner, sondern wegen der vielen Menschen von außerhalb. Die fallen jetzt komplett weg. Und bis zumindest innerdeutsch wieder gereist werden darf, wird es Juli oder August. Das wird übel, da werden viele Gastronom feststellen, dass sie kein Geld mehr haben, um Gehälter und Mieten zu bezahlen.

Mein/4: Es haben sich verschiedene Plattformen entwickelt, auf denen man Gutscheine für seine Lieblingssorte kaufen kann. War das einmal für Sie ein Thema?

Tim Raue: Das war für uns nie eine Option: Heute Gutscheine verkaufen für eine Liquidität, die mir morgen fehlt. Für uns war es wichtig, jetzt eine Lösung zu finden, die tragbar ist für uns und alle unsere Angestellten.

Mein/4: Gibt es etwas, was Sie aus der Krise gelernt haben und beibehalten möchten? Lieferservice, auch in Zukunft?

Tim Raue: Nein, nein, nein, nein, nein. Ich denke auch nicht, dass das sinnvoll ist. Restauration kommt von dem Begriff restaurieren. Du bist in ein Restaurant gegangen, weil die hygienischen Maßstäbe deutlich höher waren als bei dir zu Hause. Du bist dorthin gegangen, weil du sehr gutes Essen, Getränke und auch ein soziales Umfeld hattest. All das ist doch das, was einen Restaurantbesuch ausmacht. Der fehlt bei einem Lieferservice ja völlig.

Alle Beobachtungen in dieser Krise zeigen: Das Liefergeschäft ist nicht exorbitant gewachsen. Ich denke, und das zeigen auch Untersuchungen aus China (Wuhan), dass die Bereitschaft, frische und gute Zutaten zu kaufen, um 60 Prozent gestiegen sind. Das erwarte ich in Deutschland auch.

Der Gast wird auch in Zukunft mehr schätzen, was er an einem Restaurant hat, inklusive der sozialen Komponente.

Was ich mir noch wünschen würde – man darf ja nicht vergessen, das ist nicht der erste Virus und wird nicht der letzte sein, den wir erleben werden –, dass gewisse Hygienestandards erhalten bleiben. Ich war zum Beispiel noch nie ein großer Freund des Händeschüttelns. Das liegt einfach daran, dass ich 170 Tage im Jahr auf vier Kontinenten auf Reisen bin und glaube, dass ich ein ziemlich guter Wirt wäre. Das würde ich mir gerne in Zukunft sparen. Ich fliege zum Beispiel schon seit Jahren immer mit Mundschutz und bin immer angeguckt worden wie ein Idiot oder Außerirdischer.

Mein/4: Etwas Positives zum Schluss?

Tim Raue: Positiv finde ich, dass es nicht einen einzigen dokumentierten Fall gibt, in dem ein Restaurant der größere Auslöser oder Verteiler des Corona-Virus war. Was natürlich daran liegt, dass du dir ganz oft die Hände wäschst beim Kochen, dass alles mit sehr heißem Wasser gespült wird, dass heiß gegart wird usw.

Positiv sehe ich auch, dass den Menschen bewusst wird, wie wir in Zukunft mit Tieren umgehen wollen, Stichwort Massentierhaltung und Nutztierhaltung. Eine ganz klare Erkenntnis, dass wir und die Tiere ein Miteinander führen, was nicht sinnvoll und gesund ist. Ich will mich ja nicht als Moralapostel hinstellen, ich bin mit Currywurst und Döner groß geworden und will das nicht verteufeln. Aber uns muss klar sein, dass es so nicht weitergeht! Sonst kommt das nächste Virus nicht in 20 Jahren, sondern viel schneller.

Mein/4: Lieber Tim Raue, vielen Dank für das Gespräch!

Tim Raue

Auszeichnungen:

2005: Aufsteiger des Jahres im Gault-Millau
2007: Ein Stern im MICHELIN Guide für das Restaurant 44/Swissôtel Berlin
2007: Koch des Jahres im Gault-Millau
2008: Ein Stern im MICHELIN Guide für das Restaurant MA /Hotel Adlon Berlin
2008: 18 Punkte im Gault-Millau für das Restaurant MA /Hotel Adlon Berlin
2011: 19 Punkte im Gault-Millau für das Restaurant TIM RAUE
2012: Zwei Sterne im MICHELIN Guide für das Restaurant TIM RAUE
2013: BibGourmand im MICHELIN Guide und 13 Punkte im Gault-Millau für das Soupe populaire
2016: Platz 34 The World’s 50 Best Restaurants des britischen Restaurant Magazine
2018: Platz 37 der The World’s 50 Best Restaurants des britischen Restaurant Magazine
2019: Platz 1 der Germany’s 50 BEST CHEFS des internationalen Gastronomiefachmagazins ROLLING PIN

Alle Fotos: © Pavol Putnoki

Artikel veröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020