Die Altmeister der Sharing Economy

Ganz weg waren die Stadtbibliotheken nie. Aber Berlin hat sie in den 90er und 00er Jahren systematisch kleingespart, auch in Prenzlauer Berg und Pankow schlossen viele Standorte. Dank engagierter Bürger, frischer Konzepte und vielfältiger Veranstaltungen verzeichnen sie wachsenden Zulauf – mitunter mehr als sie bewältigen können. Doch mit neuen Leuten, Aktivitäten und vielleicht bald flexiblerer Öffnungszeiten wollen sie sich ihrer Zukunft stellen.

von Henry Steinhau

Ein gewöhnlicher Mittwoch Vormittag im April. In der Kurt-Tucholsky-Bibliothek ist es still – nur Handwerker machen Lärm; sie renovieren gerade die Büros der MitarbeiterInnen. Die Bibliothek öffnet für das breite Publikum erst mittags. Dennoch wuselt im nächsten Moment ein Schwarm aufgekratzter Vorschulkinder durch die Räume, stürzt sich auf Bilderbücher und plumpst in kleine, altersgerechte Sitzgelegenheiten.

„Auch das zählt zu unserem Alltag“, erklärt Bibliotheks-Leiterin Lia Maczey. Am Vormittag werden Kindergruppen betreut. Maczey: „Ich habe hier im Umfeld zum Teil Kitas mit nur 5 Kindern. Wenn die herkommen und eine Arbeitsstunde von mir beanspruchen, dann rechnet sich das eigentlich nicht. Und wir sollen uns ja rechnen, so gibt es die Berliner Verwaltung vor. Aber ich nehme es trotzdem an, denn das ist mein Auftrag als öffentliche Bibliothek.“

Anderer Tag, andere Einrichtung, früher Nachmittag. In der Bibliothek am Wasserturm tummeln sich Dutzende Menschen aller Altersstufen. Mehrere Schülerinnen beugen sich in einer kleinen Gruppe gemeinsam über Bücher und Aufgabenhefte; im Kinderbereich krabbeln ein paar Sprösslinge zwischen Regalen rum, gleichzeitig fläzt sich ein Vater in den riesigen Sitzsack und checkt sein Smartphone; in einer Leseecke blättert ein älterer Herr gewissenhaft eine Tageszeitung; an den PC-Arbeitsplätzen, die im länglichen Flurs aufgereiht sind, fixieren junge Leute konzentriert die Monitore.

So oder ähnlich betriebsam gehe es hier praktisch täglich zu, lässt Anne Rüster wissen, Leiterin dieser städtischen Bibliothek. „Klar ist es mitunter turbulent, am Nachmittag werden wir zum Indoorspielplatz und die von einigen erwünschte Ruhe gelingt nicht immer. Aber wir wollen da gar nicht maßregeln, sondern setzen darauf, dass die Leute sich untereinander einigen. Und das klappt in der Regel auch.“

Wieder ein anderer Tag, morgens in der Heinrich-Böll-Bibliothek. Mehrere Bibliothekarinnen sortieren emsig CDs, DVDs, Bücher und Spiele von Transportwagen in Regale; sie beantworten Mails und Anfragen am Computer, aktualisieren Aushänge an Wänden und Infobrettern.

Dann bahnt sich eine Schulklasse den Weg zu einem noch abgeschlossenen Raum. Dort ist ein spannender Mitmachkrimi vorbereitet: mehrere Gegenstände sind als Beweisstücke aufgebaut; Texte, Zettel und Karten liegen bereit. „So führen wir die Kinder an Bücher und Literaturgenres heran, in dem Fall über Detektivgeschichten. Das macht ihnen Spaß, da sind die eigentlich immer voll dabei“, erklärt eine Mitarbeiterin der Böll-Bibliothek. Sowieso sei ein Bibliotheksbesuch eine willkommene Abwechslung vom Schulalltag.

Drei vermutlich typische Szenen, die illustrieren, wie belebt und wie beliebt die städtischen Bibliotheken sind, wie vielfältig und wie sorgfältig sie ihre Funktion erfüllen, die ja ein ein öffentlicher Auftrag ist. „Der beinhaltet Unterstützung der Leseförderung für Kitas und Schulen; wir haben hier täglich zwei bis drei Kindergruppen“, erklärt Anne Rüster.

Diese Leseförderung sei längst nicht auf gedruckte Bücher beschränkt. Vielmehr finde sie auch mit Tablets, an PCs und speziellen stiftbasierte Geräten statt, die bestimmte Buchinhalte durch Animationen ergänzen, das Lesen interaktiver machen. Zudem halten die Bibliotheken Koffer mit iPads und E-Book-Readern zum Ausleihen bereit und vermitteln die digitalen Angebote der Öffentlichen Bibliotheken wie etwa ihren Musikstreaming-Dienst Freegal.

„Es gibt bei uns in den Bibliotheken keine formalistische Lernkultur, hier kann jeder nach seinem Tempo lernen und den Austausch mit anderen suchen, der ist hier erlaubt“, sagt Danilo Vetter. Er ist Leiter der Öffentlichen Bibliotheken im Bezirk Pankow und damit zuständig für die insgesamt 8 Einrichtungen des Bezirks, davon 3 in Prenzlauer Berg. Nur wenige Minuten im Gespräch mit ihm genügen, um zu erkennen: Hier ist einer, der will nicht verwalten, sondern gestalten, die Öffentlichen Bibliotheken entwickeln, verbessern, den neuen Zeiten und vor allem dem seit Jahren steigenden Bedarf anpassen.

Denn zu Zeiten weltweit vernetzter, mobiler Kommunikation und behender Multimedia-Rezeption an multifunktionalen Geräten komme dem Ort Bibliothek eine andere, eine neue Bedeutung zu. Früher hatten die Bibliotheken ein Bildungsmonopol, sagt auch Lia Maczey von der Tucholsky-Bücherei.

Heute sind Medien auf Smartphones, Tablets und PCs hingegen omnipräsent. Die Menschen kommen prinzipiell schnell an Informationen und leicht an Medien; die Endgeräte dafür haben sie in der Tasche, den Austausch darüber beherrschen die meisten buchstäblich im Schlaf.

Medien physisch auszuleihen wird da unwichtiger. Und das ist belegt: Den Statistiken nach nahmen die Entleihungen von physischen Medien – Bücher, Hefte, CDs, DVDs, Brettspiele, Konsolenspiele – bis 2014 noch leicht zu, stagnieren aber seitdem oder gehen leicht zurück, so Danilo Vetter. Ausnahme sind die Kindermedien, da gehen die Zahlen weiter hoch – und das nicht nur im bekanntlich kinderreichen Prenzlauer Berg, sondern berlinweit.

Doch gerade bei Musik und Filmen schlägt sich nieder, dass die großen Streamingdienste wie Spotify, Apple Music, Deezer sowie Amazon Prime, Sky und Netflix, die für eine Flatrate um die 10 Euro monatlich eine große Auswahl bieten, immer weiter verbreitet sind und CDs und DVDs massiv verdrängen.

Gleichwohl besuchen immer mehr Leute die Stadtbibliotheken; die Zahlen steigen seit Jahren kontinuierlich an. Im Jahr 2017 zählten die 8 Pankower Bibliotheken insgesamt rund 729.814 Besuche (2013 waren es 714.000) und 1,83 Besuche pro Einwohner (2013: 1,91), die Zahl der an Leseförderungen Teilnehmenden stieg auf knapp 43.000 (2013: knapp 38.000) – und das, obwohl die Jahresöffnungsstunden reduziert wurden (von 13.274 in 2013 auf 12.081 in 2017).

Der wachsende Zuspruch habe auch damit zu tun, dass sich Lebensweisen geändert haben, wie Anne Rüster ausdrückt. „Familien verbringen ganze Nachmittage hier, Großeltern verbringen Zeit mit ihren Enkeln. Schüler wollen hier lernen und studieren, mal alleine, mal in Gruppen.“

Das hat insbesondere seit der Einführung des freien, kostenlosen WLAN-Zugangs vor ein paar Jahren einen Schub erfahren; Studierende müssen nun nicht mehr zu den mitunter weit entfernten Universitäten fahren. Die Stadtbibliotheken bieten Arbeitsplätze, Studienplätze, ruhige Ecken. In den Bibliotheken kommen beispielsweise auch – von ihnen angeregt – Sprachen-Tandems zusammen, um sich gegenseitig Deutsch beziehungsweise Fremdsprachen beizubringen und bei der Integration zu helfen.

In der Kurt Tucholsky-Bibliothek sind Familien mit Kindern die treibenden Faktoren, sie machen 60 Prozent der Besuche aus, sagt Lia Maczey. Erwachsene sind pro Besuch kürzer hier, kommen aber gerne zu den zahlreichen und regelmäßig angebotenen Abendveranstaltungen, oft Lesungen oder Vorträge. „Die zweite große Gruppe sind Menschen, die hier ihre Sachen erledigen. Etwa Arbeitslose, Leute in Bewerbungsprozessen aber auch Autoren, die hier schreiben. Die schätzen unsere etwas andere Atmosphäre, die irgendwie zwischen Arbeit und zu Hause liegt.“

Diese Atmosphäre kommt jedoch nicht von ungefähr. Hinter den Raumaufteilungen, dem Mobiliar und dem Medienbestand stehen sorgfältig durchdachte Konzepte. Die vielfältigen Veranstaltungen konzeptionieren und organisieren die BibliothekarInnen; das ist Teil ihres Jobs. Gleichwohl sehen diese es mit großer Freude, wie sich die BesucherInnen das jeweilige Haus erobern und aneignen, die Räume regelrecht zu den ihren machen. Die Menschen kommen zum Lernen, zum Füße hochlegen, um sich wohlzufühlen. „Sie ziehen ihre Schuhe aus, verschieben Möbel, fühlen und benehmen sich wie zu Hause“, sagt Anne Rüster. Und Danilo Vetter meint: „Es sind Orte, an denen man einfach sein darf“. „Ich finde das eine schöne Entwicklung“, sagt Anne Rüster.

 

„Seit dem Aufkommen des Internets befürchten viele eine Vereinsamung der Leute. Aber für mich zeigt sich – nicht nur in Prenzlauer Berg, sondern überall –, dass sehr viele nach händischem Tun streben und sich an dafür geeigneten Orten treffen wollen.“ Ihrer Beobachtung nach waren beispielsweise Bücher über Handarbeiten, „Basteln“ und Selbermachen in den 90ern so gut wie tot; viele solcher Titel wurden mangels Nachfrage aus dem Bestand genommen. Seit Jahren nehme der Bedarf am „Do-it-Yourself“ (DIY) aber wieder zu etwa durch die junge, gegenüber handwerklichen wie digitalen Techniken genauso aufgeschlossene Maker-Bewegung.

Und die Nutzung des Internet befördere offenbar nicht nur die virtuelle Vernetzung, sondern verstärke auch das Bedürfnis nach Begegnungen und für die braucht es eben Räume in einem passenden Umfeld, so Rüster. Diesem offenbar wachsenden Bedürfnis, sich in der echten Welt mit anderen Menschen zu treffen, wollen die öffentlichen Bibliotheken unbedingt entsprechen.

Und das hat aus Sicht der dafür Verantwortlichen sehr viel mit der richtigen Aufenthaltsqualität zu tun. So gibt es beispielsweise Podeste für die Kleinsten, wo die Bücher in eingelassenen Kästen leicht zu Greifen sind (statt sie aus dem Regal angeln zu müssen) und wo sie nach Größen sortiert werden, nicht nach Signaturnummern. „Ich hätte gerne noch mehr gemütliche Ecken, Spielräume für Kinder und Bastelecken, um mehr Angebote für Aktivitäten machen zu können“, sagt Lia Maczey und zeigt auf einen Stapel Papier, der auf einem der Tische liegt. Es sind Umfragebögen, mit denen die Besucher ihre Wünsche äußern können. Maczey: „Wenn die Nutzer mehr Sofas haben wollen und mehr Streaming-Angebote, dann versuchen wir das möglich zu machen. Die Kids wünschen sich beispielsweise mehr Gaming und Konsolenspiele, auch darauf stellen wir uns ein – wobei ich schon darauf achte, dass audiovisuelle Medien nicht mehr als ein Drittel des Gesamtsortiments ausmachen.“

Neben den genannten Erkenntnissen (am häufigsten nennen die Besucher den Wunsch, einen Kaffee zu bekommen) dienen die Umfragen auch dazu, mit den BesucherInnen ins Gespräch zu kommen, sie zu binden, um sie vielleicht auch einbeziehen zu können. Denn wie viele städtischen Einrichtungen leiden auch die Bibliotheken an zu wenig Personal und zu geringem Budget, um all ihre Aufgaben zu erfüllen und den Bedürfnissen des Publikums zu entsprechen. Neuer Zulauf und neue Aufgaben erfordern mehr Arbeit, die das vorhandene Personal kaum bewältigen kann.

Insbesondere am Samstag, wenn die Bibliothek nur drei Stunden aufhat, ist der Ansturm an Rückgaben und Beratungsfragen besonders groß – verständlich, denn viele schaffen es in der Woche nicht, nach Feierabend noch in die Bibliothek zu gehen. Samstags sind in der Heinrich-Böll-Bibliothek die Beschäftigten und die Sortieranlage überfordert; das ist nicht zu schaffen, erzählen die MitarbeiterInnen. Hier wären flexiblere Öffnungszeiten erforderlich. Wie in vielen anderen Fällen versuchen sie ehrenamtliche HelferInnen einzubinden – ein Gedanke, der bei städtische Einrichtungen naheliegt, denn die gehört ja der öffentlichen Hand, also uns allen.

Mehr noch: Am Beispiel der Kurt-Tucholsky-Bibliothek (KTB) zeigte sich, dass engagierte BürgerInnen durchaus bereit sind, sich für „ihre“ öffentliche Bibliothek zu engagieren und sie schlussendlich vor der Schließung zu retten. Und das kam so: Wie viele andere Bibliotheken in ganz Berlin fiel die KTB irgendwann der Spar- und Verdichtungspolitik des Senats zum Opfer, den die Bezirke umsetzen mussten. Ab den 90er Jahren wurde bei den Bibliotheken radikal gekürzt, ein Einstellungsstopp verhängt und auch die in der DDR gültige Regelung gekippt, dass in Berlin jeder in maximal 15 Minuten fußläufiger Entfernung eine Bibliothek erreichen können müsste.

Im Zuge dieser teilweise schmerzlichen Kahlschläge machte sich bei den MitarbeiterInnen der Öffentlichen Bibliotheken eine gewisse Agonie breit – und auch bei den BürgerInnen regte sich nur vereinzelt Widerstand. Außer in Prenzlauer Berg, wo sich viele Stammkunden und Freunde der KTB zusammenfanden, um nach der vorläufigen Schließung im Jahr 2007 die drohende Auflösung zu verhindern und die Bibliotheksräume besetzten.

Ab 2008 und fast 10 Jahre lang betreuten dann ehrenamtliche HelferInnen des Bürgervereins Pro Kiez Bötzowviertel den Betrieb von Ausleihen, Öffnungen und Veranstaltungen. Zwar blieb die Tucholsky im Verbund der Öffentlich Bibliotheken Berlin (VÖBB), doch der Bezirk zahlte lediglich die Unterhaltskosten, nicht aber das Personal. Unter Leitung der gelernten Bibliothekarin Uta Egerer hielt diese Improvisationslösung mit Ehrenamtlichen bis 2017 an.

Erst als nach den Wahlen eine neue Bezirksregierung und ein neuer Bezirksstadtrat ihre Posten einnahmen, konnte durch Danilo Vetters und anderer Bemühen und Verhandlungen endlich eine neue Stelle geschaffen, ein Budget vereinbart und die Kiez-Bibliothek offiziell und ganzheitlich in den VÖBB „re-integriert“ werden.
(Mehr dazu unter www. prenzlauerberg-nachrichten.de unter dem Suchbegriff Kurt Tucholsky Bibliothek)

Diese Rettung durch engagierte BürgerInnen ist für Berlin ein einmaliger Fall, der aber alle Beteiligten stolz und vielen anderen Mut machen sollte, die in Bibliotheken arbeiten oder sich für sie einsetzen. Womöglich markiert die Rettung der KTB auch den Wendepunkt zu einem Umdenken, den Stadtbibliotheken wieder mehr Aufmerksamkeit, womöglich auch mehr Budget und mehr Personal zukommen zu lassen. Das wünsche er sich und es sei dringend erforderlich, meint Danilo Vetter. „Die letzte große Planung für Berlins Bibliotheken stammt aus dem Jahr 1995, die muss unbedingt neu aufgesetzt werden.“

Schon länger gibt es die Forderung nach einem Bibliotheksgesetz mit grundsätzlichen Festschreibungen und kurzen Zyklen – etwa so wie in Skandinavien. Dort habe man die Zeichen der digitalen Umwälzungen und der hohen Dynamik bei Medien erkannt und plane für maximal vier Jahre im Voraus, erzählt Vetter. Nach 20 Jahren Einstellungsstopp für Bibliotheken müsse in Berlin endlich wieder junger Nachwuchs dazukommen, meint auch Anne Rüster, die bereits seit 30 Jahren als Bibliothekarin arbeitet: „Wir haben so viele gut ausgebildet, durften sie aber nicht übernehmen, deshalb ist die Generation der jetzt 30- bis 45-Jährigen bei uns kaum vertreten. Doch die brauchen wir jetzt mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen auf Medien und ihren Ideen.“

Drei Hauptgedanken finden sich in den Zukunftsplänen der Prenzlberger Bibliothekare für ihre, beziehungsweise für alle Berliner Einrichtungen immer wieder: Sie brauchen genügend Raum und Kooperationspartner, müssen neuartige Verleih-, Veranstaltungs- und Aktivitäts-Angebote jenseits „klassischer Medien“ machen und sollen ihre MitarbeiterInnen besser bezahlen.

Für Kooperationen ist die Bibliothek am Wasserturm ein gutes Beispiel. Sie ist in einem ehemaligen Schulgebäude im Sebastian Haffner-Zentrum untergebracht, zu dem die bezirkliche Volkshochschule sowie das Museum Pankow gehören. Aus dieser Nähe dreier Kultur und Bildungseinrichtungen ergeben sich Synergien, etwa bei kooperativen Veranstaltungen, in der Nutzung der Räume, beim Teilen von Ressourcen. Das sei fruchtbar und erinnere ein wenig an die ähnlich konzipierten Kulturhäuser zu DDR-Zeiten, so Anne Rüster. Dass ihr in dem vergleichsweisen großen Gebäude samt Hofgelände momentan der Platz fehlt, um weitere Kinderwagenparkplätze, einen Wickelraum sowie einen Stillraum einzurichten, das mögen manch andere Standorte, bei denen es wesentlich enger ist, als Luxusproblem betrachten.

Aber sei’s drum, Raum könnten die Bibliotheken gar nicht genug haben – denn wo mehr Raum ist, wird er auch angenommen, so Lia Maczey. Das weiß man beispielsweise von der zentralen Stadtbibliothek in Steglitz. Die ist in der obersten Etage eines großen Shoppingcenters untergebracht, hat viel Fläche. Sie lockt insbesondere Jugendliche an, weil für sie ein großes Areal geschaffen und gestaltet wurde.

Leuchtende Augen bekommen die Prenzlberger Bibliothekare auch, wenn sie vom dänischen Aarhus erzählen. Bei einer Reise dorthin, an der sich auch Bezirkspolitiker beteiligten, bestaunten alle die geräumige, helle, modern aufgestellte, mit vergleichsweise wenig Regalen aber viel Verweilplätzen ausgestattete Zentralbibliothek und deren 18 angeschlossenen Filialen, die „nur“ 280.000 Einwohner versorgen. Pankow hingegen verfügt für knapp 400.000 Einwohner über derzeit nur noch 8 Bibliotheken – es waren Anfang der 90er mal 20.

Für die Dänen hätten Bibliotheken schon länger eine weit gefasste soziale Funktion, sagt Danilo Vetter; sie stehen primär für Medienberatung und -sozialisierung und sind vor allem offene Begegnungsstätten. Das ist bei gar nicht so weit weg vom hiesigen Anspruch. Auch unsere Stadtbibliotheken sind offen und zugänglich für jeden; es gibt keinen Konsumzwang, sie müssen nichts verkaufen, um sich zu rechtfertigen – und sie kosten die Nutzer fast nichts: 10 Euro pro Jahr für Erwachsene, Kinder zahlen gar nichts.

Und im Mittelpunkt steht auch hier, bei möglichst vielen Nutzern Lesefähigkeit, Informations- und Medienkompetenz zu verbessern. Doch Methoden, Medien und Angebote müssten sich wandeln: von Indoor-Aktivitäten für Kids über Lesungen für Erwachsene bis hin zu Kiezführungen. Oder Kinoabende, die die Kurt-Tucholsky-Bibliothek gerade plant. Aber auch Programmierkurse („coding“), Neues rund um Gaming oder Aktivitäten zu Urban Gardening haben die Öffentlichen Bibliotheken im Angebot.

„Ich habe gerade an einem Konzept für einen Aktionstag an allen Einrichtungen geschrieben, mit Maker Spaces, einer Bibliothek der Dinge“, erzählt Lia Maczey von der Tucholsky-Bibliothek. „Ich stelle mir da einen Schrank vor für neue, auch mal teure Sachen wie VR-Brille, GoPro-Kamera, Lötkolben. Das meint, wir wollen auch andere Formen des Zugangs zu Medien und Mediengeräten anbieten, die sich Einzelne nicht leisten können, aber gerne mal nutzen würden.“

Wer da jetzt den Begriff „Sharing Economy“ herausliest, liegt richtig. Im Grunde sind Bibliotheken die Altmeister der „Sharing Economy“, ihnen liegt die Idee des Teilens zugrunde, in ihrem Fall das Teilen von Wissen und Bildung. „Es geht schlicht um Angebote für’s moderne Leben, das von digitalen Medien und Geräten geprägt wird“, ist auch Danilo Vetter überzeugt. „Ich würde den Bibliotheken da keine Denkgrenzen setzen wollen, sondern immer offene Ohren dafür haben, was die Nutzer gerne möchten“.

Er könnte sich beispielsweise auch Kochkurse vorstellen. Die passen zu uns, weil wir auch Kochbücher verleihen. Dafür müsse man sich gegebenenfalls Kooperationspartner suchen. Begegnungsstätte, Sprach-Tandems, VR-Brillen, Kochkurse, Urband Gardening, Lesungen, Kiezrundgänge – das könnte von Bibliotheken erstens weit weg sein und zweitens auch zu viel für sie sein. Müssten nicht auch Jugendfreizeitheime, Volkshochschulen oder Stadtteilzentren solche Angebote machen? Oder anders gefragt: Sollen Bibliotheken wirklich alles abdecken, was womöglich woanders versäumt wird, nur weil sie für alles und jeden offen sein müssen und die Wünsche ihrer Nutzer erfüllen wollen? Bleibt am Ende die eigentliche Lese- und Medienkompetenzförderung zurück?

Diese Gefahr sieht er nicht, sagt Danilo Vetter. „Wir müssen heute und erst recht morgen weniger den Zugang zu Informationen und Medien bieten. Vielmehr müssen wir die Menschen ermächtigen, anleiten und aufklären, wie sie sich in den digital vermittelten Medien und Informationsräumen zurechtfinden, Fake-News erkennen, Quellen zuordnen können, die Qualität von Medien bewerten und so weiter.

So gesehen sind Bibliothekare längst mehr als nur Archivare und Auskunftgeber; ihr Job ist vielfältiger und interessanter. Sie müssen sich fragen: „Was braucht meine Community, um gut durch’s Leben zu kommen?“

Für diesen zukunftsgerichteten Ansatz würden Bibliotheken aber neu ausgebildete und gut bezahlte Fachkräfte, verlässliche Budgets und eben Räume benötigen. So könnte es neue Berufsbilder geben, die unter anderem auch Kompetenzen in Medienpädagogik und Sozialarbeit mitbringen. Den schon jetzt eklatanten Personalmangel könne man gar nicht dauerhaft mit BUFDIs, PraktikantInnen, StudentInnen und die vom Jobcenter vermittelte WiedereinsteigerInnen ausgleichen – auch wenn solche Helfer ebenso willkommen sind wie ehrenamtlich Mitwirkende.

Diesen kann aber eine wichtige Rolle zukommen, wenn es um die Erweiterung der Öffnungszeiten geht – die Diskussion um die Öffnung der Bibliotheken an Sonntagen nimmt derzeit an Fahrt auf. Sie würde, wie bei Museen, durchaus Sinn machen, um gerade Berufstätige noch besser zu erreichen.

Für ganz Berlin wünscht sich Vetter eine möglichst schnelle Abkehr von der jetzigen Budgetierung aufgrund von „Erfolgsquoten“. Die Zuteilung von Etats je nach Besuchen, Ausleihen und Teilnehmenden bei Veranstaltungen schaffe einen unnötigen Wettbewerb innerhalb des ÖBB-Verbunds – der sich doch gerade durch gemeinsame Projekte definiert und beweist. „Spandau bekommt momentan 1,50€ pro Einwohner, wir in Pankow nur 1€. Das heißt, einige Bezirke können sich gut entwickeln, andere nicht, haben Probleme.“, sagt Vetter.

Dabei müsse es doch um den konkreten Bedarf vor Ort gehen. Allein die Heinrich-Böll-Bibliothek müsste für 330.000 bis 400.000 Euro gründlich renoviert und aufgemöbelt werden. Vetter hofft, dass der Senat den Koalitionsvertrag umsetzt, wonach er diese Wettbewerbsregelung kritisch prüfen will. Zudem müssten die Fachkräfte in den Bibliotheken wesentlich besser bezahlt werden – anderenfalls besteht die Gefahr, dass sie in andere Bundesländer abwandern.