Die August-Hitze macht mich genauso depressiv wie wochenlanger Dauerregen. Meine Seele leidet nicht an missmutigen Gesichtern unter Regenschirmen, sondern an der Gewissheit, dass es sich um eine Katastrophe handelt.

Bei Wikipedia lese ich: Die Erwärmungsgeschwindigkeit ist seit der Industrialisierung vor 150 Jahren etwa 100-mal größer als bei natürlichen Klimaveränderungen. „Ist doch schön wenn‘s ein bisschen wärmer wird“, soll Trump gesagt haben.

Und bei Facebook begegnen mir sogar im Chat eines Uni-Professors Menschen, die sich unter der Klimaerwärmung statt Hungersnöten und Flächenbränden bunte Strandschirme und Caipirinha vorstellen. Klimaforscher seien Scharlatane, behaupten sie außerdem. Zu leugnen, was man nicht wahrhaben will, ist wahrscheinlich die erstaunlichste menschliche Eigenschaft.

Meine Wut relativiert sich bei dem Gedanken, dass es unglücklich macht, seine Augen und Ohren zuhalten zu müssen, um große Probleme zu ignorieren. Bestimmt macht das die anderen genauso unglücklich wie ich mich unglücklich mache, wenn ich mich den Katastrophen mit so großem Interesse zuwende.Ich bin keine Klimaaktivistin, aber die Hitze, die mich so unglücklich macht, sagt mir, dass es nicht reichen wird, Fahrrad zu fahren, meinen Müll zu trennen, keine Flugreisen zu buchen und mir keinen Swimmingpool bauen zu lassen.

Meine quälende Sehnsucht nach der einstigen Unbeschwertheit habe ich sicher mit den Erderwärmungs-Leugnern gemeinsam. Um diese Unbeschwertheit in der Welt, in die ich schließlich zwei Kinder gesetzt habe, wenigstens teilweise zurückzubekommen, muss ich irgendetwas tun! Das Überlebenwollen ist vielleicht auch eine Eigenschaft, die mich mit denen verbindet, die lieber an der Vorstellung festhalten, die Erde hätte völlig grundlos beschlossen, heiß zu werden.

Diese maßlose Ignoranz, mit der einige verlangen, mit dem Klimawandel in Ruhe gelassen zu werden, erreicht aber kaum meine maßlose Arroganz, mit der ich nach einer Hoffnung verlange. Wenn die Wirtschaft die Erde kaputt gemacht hat, muss sie diese doch auch wieder ganz machen können!? Wenn wir das Klima durch Treibhausgase so schnell so drastisch erwärmen konnten, können wir es dann nicht auch wieder abkühlen? Nein, sagen die Klimaforscher. Die Erde erwärmt sich trotzdem weiter, selbst wenn wir sofort alles stoppen würden, was den Treibhauseffekt verursacht hat. Alle Ideen, mit denen man die Erderwärmung aufhalten könnte, würden ebenso viel schaden wie nützen.

So wie die Menschen sich im Facebook-Chat zusammenfinden, um einander zu bestätigen, dass sie auch nicht an den Klimawandel glauben, so suche ich nach Menschen, die auch nach einer Hoffnung suchen. Mit dieser Hoffnung melde ich mich für ein Aktionscamp in Holland an. Der Zufahrtsweg einer Lagerungsstätte für giftiges Gaskondensat soll blockiert werden.

Während ich den Wikipedia-Artikel über Fracking und andere Gasabbaumethoden lese, wird mir schlecht. Das Erdgas wird gewonnen, indem mit hohem Druck eine Flüssigkeit in die Erde gepresst wird, damit das Gestein somit aufgesprengt wird und das Gas herausströmen kann. Welche Chemikalien und Biozide diese Flüssigkeit enthält, die dabei auch ins Grundwasser gelangen kann, wird vor der Öffentlichkeit geheim gehalten. Durch den unvermeidbaren Austritt von Methan, woraus das Gas ja größtenteils besteht, hat der Abbau von Erdgas eine ebenso negative Treibhausgasbilanz wie Kohle, weil Methan ein stärkeres Treibhausgas ist als CO2 und das Klima anheizt.

Der Klimawandel kennt keine Grenzen. Wir auch nicht!

Das ist der Aufruf, der mich nach Groningen zieht. Die Aktion heißt Code Rood und richtet sich gegen die fossile Brennstoff-Industrie. In diesem Fall gegen die Mineralölkonzerne Shell, Exxon Mobile und NAM, die niederländische Erdölgesellschaft. Ich fahre mit einer Freundin hin und wir bekommen nützliche Geschenke von Leuten, die auch gerne hinfahren würden, aber arbeiten müssen. „Toll, dass ihr das macht!“, sagen sie und packen uns ein Schokoladenpaket ein oder borgen uns gute Campingsachen.

Man wisse ja gar nicht mehr, wogegen man zuerst protestieren solle, sagen sie. Gegen rechts, gegen die Konzerne oder für die Umwelt. Als Klimaaktivist hat man es leicht. Es gibt keine rechten Aktivisten und gegen Konzerne richtet sich grundsätzlich jede Umweltaktion.

Wir fahren mit dem Zug bis Groningen, dann mit dem Bus weiter und als wir mit den schweren Rucksäcken die letzten vier Kilometer zum Camp laufen wollen, hält ein Auto und nimmt uns mit. Es ist ein kleiner idyllischer Ort mit bezaubernd romantischen Häuschen, Vorgärten und einem kleinen Kanal voller Entengrütze. Die Maisfelder sind hier noch grün, die Hitze scheint kaum einen Schaden angerichtet zu haben.

Das Camp wurde schon vier Tage zuvor aufgebaut, es sind bereits 675 Menschen da, wie die Liste zeigt, auf der wir jeder einen Strich machen sollen. Wir gehen vorbei am Media Bus, einem alten ausrangierten Linienbus, einem Zirkuszelt und zwölf großen Arbeits- und Meeting-Zelten. In einigen werden Schablonen geschnitten und weiße Maleranzüge, T-Shirts, Fahnen und Banner mit Parolen und Logos besprüht, bemalt, benäht, beklebt. „Systemwandel statt Klimawandel“ steht am Wassertankturm.

Auf einer weiteren Wiese: ein buntes Meer aus Igluzelten und Fahrrädern. Es gibt Dixi-Toiletten und eine Waschstrecke. Alles ist friedlich und gechillt. Vor allem aber ist es unheimlich professionell. Die Abläufe wie zum Beispiel der Aufbau des Duschturmes und der Außenküche scheinen routiniert und vielfach erprobt. Jede Hand weiß, was zu tun ist. Sofort fragt sich mein im Kapitalismus ausgeprägtes Unterbewusstsein, wer an dieser Professionalität Geld verdient. Die Antwort ist: keiner. Und trotzdem ist die Logistik beeindruckend und ausgeklügelt. Nichts ist zu viel, alles Notwendige ist da und es funktioniert reibungslos.

Es werden riesige Mengen Essen gekocht und an der langen Schlange wird nicht gestanden, sondern man bewegt sich stetig vorwärts, weil die vollen Teller im Sekundentakt ausgegeben werden. Nachdem wir gegessen und unser Zelt aufgebaut haben, melde ich mich im Media Bus. Ich werde gefragt, für welche Zeitung ich schreibe und man nickt mit Einverständnis. Fotografieren solle ich im Camp niemanden von vorne, aber am morgigen Aktionstag gäbe es keine Einschränkungen. Da seien diejenigen vermummt, die anonym bleiben wollen.

Sieben verschieden große Gruppen, genannt Finger, werden sich am Aktionstag auf verschiedenen Wegen zu unterschiedlichen Zeiten zur 11 Kilometer entfernten Lagerungsstätte Delfzijl bewegen. Uns wird der Green Finger empfohlen. Der fährt mit dem Zug. Der Golden Finger wäre die größte Gruppe und würde zu Fuß gehen. Der Pink Finger fährt mit einem Boot und der Red Finger besteht aus denen, die nicht im Camp, sondern in der Umgebung wohnen, der Orange Finger fährt mit Rädern und so weiter.

Ich gehe über das Camp und sehe mir die Menschen an. Ich hatte gedacht es müssten auch jede Menge Spinner dabei sein, von ihrem Umfeld ausgegrenzte, die sich solchen Camps, in denen erst mal jeder willkommen ist, oft gerne anschließen. Aber die Menschen, die sich hier versammelt haben, sind das Gegenteil. Es ist eine Auswahl derer, nach denen sich der Arbeitsmarkt alle Finger leckt, wie ich am Abend bei der Versammlung im Zirkuszelt feststelle. Die Nationalitäten sind gemischt, die Menschen mit denen ich rede, scheinen allesamt intelligent, hochqualifiziert, jung, belastbar und flexibel.

Ich stöpsle meine Ohrhöhrer an eine kleine Kiste und bekomme eine Simultanübersetzung der Versammlung. Eine französische Kiste gibt es auch. Das bin ich aus großen Museen gewohnt, aber nicht aus provisorischen Zeltlagern. Wenn wir eine Drohne sehen, solle uns das nicht verunsichern, die gehöre zu uns, sagt die Sprecherin. Aber wenn wir einem Helikopter sehen, dann sei das definitiv nicht unserer, sagt sie. Alle lachen.

Wir treffen einen der Aktivsten der kooperierenden deutschen Initiative: „Ende Gelände“, die seit 2015 Massenaktionen des zivilen Ungehorsams für den sofortigen Kohleausstieg organisieren. Der junge Ökonom hat in Oxford und an der Sorbonne studiert. Beruflich wertet er in Berlin Studien aus und beschäftigt sich mit der Frage, was Braunkohle-Arbeiter machen können, wenn ihr Tagebau stillgelegt wird. Kurz beantworten kann er mir das im Moment aber noch nicht.

Nach der großen Versammlung gibt es viele kleine Versammlungen – weil es innerhalb der großen Gruppe kleine Gruppen gibt. Infinity-Group verstehen wir und fragen uns, was das wieder Geheimnisvolles ist. Affinity-Group heißt es natürlich richtig. Was das Legal-Zelt sei, frage ich den Leiter unserer Affinity-Group im Green Finger. Das würde er gleich erklären, aber davor müssten wir unsere Handys wegbringen. Die dürfen auch ausgeschaltet nicht mit ins Plenum. Wir bringen unsere Handys zur Ladestation. Das heißt: auf den Planwagen, auf dem man an vier Barhockern sitzen, in die Pedalen treten und Strom erzeugen kann. Alle Plätze sind besetzt und wir können getrost unsere Handys anschließen.

Der Leiter unserer Affinity-Group erklärt uns die internen Absprachen, alle Handzeichen und dass jeder einen Buddy braucht. Eine Frau hat ihren Mann und ihre Kinder mitgebracht, die werden am Aktionstag im Camp bleiben. Das hätten sie schon oft so gemacht. Ein paar Mal sei sie auch verhaftet worden. Ihr Mann bewahre während der Aktion ihren Ausweis auf. Der Leiter der Gruppe erklärt, warum das eine gute Lösung ist. Wir sollen jetzt ins Zelt des Legal-Teams gehen, wo wir entscheiden müssen, ob wir morgen unsere Ausweise mitnehmen oder anonym blieben wollen. Es sei ein Zeichen der Solidarität mit denen, die Gründe haben, anonym zu bleiben. Illegal sei es zwar, aber legitim. Und es würde der Polizei die Arbeit erschweren. Aber es sei uns überlassen und vollkommen in Ordnung, die Ausweise mitzunehmen.

Die hohe Konzentration risikobereiter Menschen gefällt mir. Ich fühle mich wohl.

Aber der Legal Team Fragebogen überfordert mich dann doch. Als Nicht-Aktivistin, die bisher nur bei angemeldeten Demonstrationen mitgelaufen ist, bin ich es nicht gewohnt, mich darauf vorzubereiten, dass es ernst werden kann. Die Anwältin, die mir gegenüber sitzt, sagt keine Sätze wie: „Es passiert dir schon nichts“. Sie sagt: „Es kann sein, dass du verhaftet wirst. Es kann sein, dass ihr mit Kleinbussen von der Polizei weggebracht und 15 Kilometer entfernt ausgesetzt werdet. So werden Blockaden oft aufgelöst.“ Dazu muss man bereit sein, wenn man mitmachen will.

Mein Verstand ist zu allem bereit, aber meine Seele ist ein Weichei. Draußen ist es dunkel geworden und ich wünschte, mein Freund hätte mitkommen können. Ich bin voller Mut und Entschlossenheit, würde mich notfalls nackt ans Werktor ketten, bin sofort dabei, wenn es um zivilen Ungehorsam geht, und doch fange ich schon fast an zu heulen, als vor dem Zelt die großen Sprechchöre beginnen.

„What do we want?“ fragt die Sprecherin durchs Megaphon. „Clima-Justice!“, antwortet die Menge. „When do we want it?“ „Now!“. Es wiederholt sich rhythmisch wieder und wieder. Die daraus entstehende Energie löst in mir eine unbeherrschbare Angst aus. In Notfällen flüchte ich nicht, sondern stehe nur da und heule. So passiert es mit mir bei Unfällen oder dem Anblick von Polizeigewalt bei Demonstrationen, aber auch bei überwältigenden Naturereignissen, wie beispielsweise den ersten Kirschblüten nach einem langen grauen Winter. Mit mir ist im Notfall nichts anzufangen.

Ich entscheide für ‚nicht anonym‘, trage noch die Handynummer meines Freundes ein und kreuze an, dass ich keinen eigenen Anwalt habe. Was mit den hiergelassenen Ausweisen passiert, weiß keiner. Nur, dass sie nicht zusammen bleiben und nicht im Camp. Wenn ich festgenommen werde, wird mein Freund benachrichtigt, und wenn ich frei gelassen werde, soll ich mich sofort melden. Die Telefonnummer sollen wir auf unsere Unterarme schreiben. Wir bekommen eine Nummer. Ich bin 2055. Auch die schreiben wir mit einem wasserfesten Stift auf unsere Unterarme. Wir sehen uns um und ich weiß, meine Freundin überlegt auch, ob die anderen zu jung sind, um bei diesem Vorgang an KZ Häftlinge zu denken. Wir kennen Stempel von Nachtclubs auf dem Handrücken, aber noch keine Registrierungsnummern auf Unterarmen. Die Anwältin verabschiedet uns mit „Hope, you don‘t need us“.

Am nächsten Morgen soll nur der Golden Finger bei der ersten Sirene aufstehen. Alle anderen zur zweiten. Aber wir sind schon nach der ersten hellwach. Es ist 06:30 Uhr. Wir warten, bis die ca. 300 Leute vom Golden Finger das Camp mit roten Rauchraketen und Sprechchören verlassen haben „Solid as a rock, rooted as a tree, we are here, standing strong, in a rightfull place“, singen sie. Dann beschmieren wir uns Brote mit Hummus, Bohnenpaste, Grünkohlpaste, Marmelade und Erdnussbutter.

Wenn jemand „Mic check“ ruft, rufen daraufhin alle „Mic check“ und unterbrechen ihre Gespräche. Dann geht es um etwas Organisatorisches. Um sicherzustellen, dass es jeder verstanden hat, wird jeder Satz von der Menge laut wiederholt. „Meeting, Green Finger in ten minutes at the fire place“, alle wiederholen den Satz. Eine Frau sagt beim Mic check einen zu langen Satz, der bei der Wiederholung in Gemurmel ausartet. „Sorry“, ruft die Ansagerin. „Sorry“, ruft die Menge. „Too long sentence“. „Too long sentence“ wird lachend wiederholt.

Wir ziehen im Block los. Der Vater steht mit den Kindern auf der Straße, sie winken und es ist, als würde ihre Mutter in den Krieg ziehen. Das Tempo ist schnell. Eigentlich ist es ein Marsch. Autos hupen, Fahrer winken, halten den Daumen hoch und lächeln. Ich überlege mit meiner Freundin, warum es uns so schwer fällt den mic check mitzusprechen und die Parolen mitzusingen. Wir waren beide Thälmannpioniere in der DDR. FDJler sogar auch. Irgendwann wurde uns klar, dass es nicht um uns ging, sondern um eine Ideologie, von der wir nichts verstanden. Der Einzelne zählt nicht, nur das Ziel.

Das Prinzip ist hier ähnlich. Wir sind alle Finger derselben Hand und wir stehen voll und ganz hinter diesem Plan, weil wir alt genug sind um ihn zu verstehen. Trotzdem steckt in uns noch die Angst vor der Instrumentalisierung. Wir beschließen, das einfach zu erklären, damit sich niemand wundert, warum wir nicht mitrufen: „leave it in the ground – leave it in the ground. leave it in the ground …“ Aber es wundert sich niemand.

Dass die Organisatoren viel Energie reinstecken, es allen gut gehen zu lassen, spüren wir seit unserer Ankunft. Es geht uns gut. Die Laune ist bestens und wir fühlen uns zu nichts gedrängt, was wir nicht wollen.

Wir marschieren laut singend auf eine Koppel zu. „Strong as a rock …“ Die Pferde fangen an, im Kreis zu rennen. „Horses getting scared“ flüstert der Sprecher durchs Megaphon und wir gehen langsam und schweigend an ihnen vorbei. Ohne Fahrkarten steigen wir in den Zug. Der Zug ist voll mit uns. „Mic check“ ruft einer durchs Abteil; „Mic check“ rufen alle. „We remember“, „We remember“, „to give place“, „to give place“, „to other passengers“, „to other passengers“, „Cause we are“, „Cause we are“, „awesome“ „awesome“. Die Fahrgäste lachen.

 

Auf dem Weg durch die Stadt bleiben Omas mit Enkelkindern stehen, winken uns fröhlich zu wie einem Karnevalsumzug. Die Bewohner sind froh über unsere Blockade, klagen schon seit Jahren gegen NAM, weil durch Erdbeben, die die Erdgasförderung mit sich bringt, tiefe Risse in den Hauswänden entstehen. NAM bestreitet, dass die Erdgasförderung dafür die Ursache ist, und zahlt nur manchmal willkürliche Kompensationen. Als wir an der Lagerungsstätte ankommen, zünden wir pinkes Rauchfeuerwerk und werden von den bereits Angekommenen jubelnd empfangen.

Das Werktor ist geschlossen. Kein LKW fährt heute ein oder aus. Auch die Gleise bleiben leer. Man hat sich auf die Blockade eingestellt. Polizisten stehen in kurzen Abständen vor den Zäunen und wirken freundlich. Wir legen unsere mitgebrachten Strohsäcke auf den Beton und auf die Wiese daneben. Viele schlafen von dem langen Marsch sofort ein, andere beginnen große Gemeinschaftszelte aufzubauen, Dixiklos werden aufgestellt, Essen wird vorbereitet, eine Bühne wird aufgebaut, Transparente werden zwischen die Laternen gehängt. Wieder funktioniert alles reibungslos wie einstudiert. Wir sind alle Finger einer Hand und es ist erstaunlich, wie diszipliniert ziviler Ungehorsam ablaufen kann.

Man redet mit den Polizisten, sie bekommen Essen angeboten. Ein polizeilicher Überwachungswagen macht sich einen Spaß daraus, zwei Demonstranten immer hin und her laufen zu lassen, indem er vor und zurück fährt, während die beiden ihr Transparent so halten, dass die Kamera auf dem Wagendach verdeckt ist. Beide Seiten lachen darüber. Eine Pappkamera wird gebastelt. „Watching you, watching us“ steht darauf.

Trotz der guten Stimmung ist eine untergründige Spannung zu spüren, die mich an eine Antilopenherde erinnert, die friedlich weidet, weil die Löwen satt in der Sonne liegen. Aber die Jagd kann jeden Moment losgehen, die Stimmung kippen, der Machtkampf beginnen. Fotografen bringen ihre Bilder zum Media Bus, damit sie gepostet werden können, Kamerateams senden live, auf den Dächern stehen Fernsehteams und warten. Wir sind umgeben von Wartenden. Wir beschäftigen uns.

Nach dem Essen nehme ich einer Frau vom Küchenteam die Couscous Kelle ab – und dabei komme ich mir vor wie der König, der im Märchen vom Fährmann das Ruder in die Hand bekommt und nun an seiner Stelle rudern muss. Das Tor zum Erdöl ist die Hölle und sollte geschlossen werden, denke ich, während ich Couscous auf Teller scheffle. Die Schlange ist noch endlos und als die Kiste leer ist, wuchte ich eine neue auf den Tisch. Teller für Teller im Sekundentakt. Mein Arm tut weh. Ich benutze den anderen und empfehle das auch dem Mann an der Gemüsetonne. Journalisten werden an der Schlange nach vorne geholt und bekommen eine Extraportion.

„Mic Check“, ruft jemand. „Free Massage on the Traintrack“ – alle wiederholen den Satz fragend und ich verstehe, wozu diese Wiederholungen gut sind: Man kann schwer selbst etwas sagen, was man nicht versteht. Alle sehen zu den Gleisen. Eine Reihe Menschen sitzt hintereinander wie beim Eisenbahnspielen und jeder massiert den Vordermann. Die Gleise sind jetzt auch besetzt. Die Polizisten haben sich zurückgezogen, das besetzte Gelände hat sich ausgedehnt bis zu dem Zaun, hinter dem sieben Gastürme zu sehen sind. Jemand schenkt uns einen Korb Äpfel, die in wenigen Minuten schon wieder verschenkt sind. Endlich hat sich die Schlange aufgelöst und ich bin wieder frei.

Die Bundestags-Abgeordnete und energiepolitische Sprecherin von B90/Grünen aus Niedersachsen, Dr. Julia Verlinden, sitzt auf einem Strohballen und ich frage sie, in welchen europäischen Ländern Fracking eigentlich erlaubt ist und in welchen nicht. Es gibt verschiedene Methoden der Erdgasgewinnung, sagt sie. In Deutschland wird seit Jahrzehnten im Sandstein gefrackt. Nur Schiefergasfracking ist, bis auf vier mögliche Probebohrungen, vorerst verboten worden. Aber das kommt in Deutschland derzeit sowieso kaum infrage, weil man zu viel Energie reinstecken müsste und es damit momentan ökonomisch wenig attraktiv ist. Jede Variante des Frackings birgt enorme Gefahren für die Umwelt, man kann nicht zwischen gefährlich und ungefährlich unterteilen. Das giftige Lagerstättenwasser, das bei der Erdgasgewinnung anfällt und bei dem Einsatz von Fracking zusätzlich mit Chemikalien versetzt ist, wird zurück verpresst, dorthin, wo man das Erdgas rausgeholt hat. Wohin das genau gelangt, hat man nicht unter Kontrolle.

Die Behauptung, es gäbe einen sauberen Abbau fossiler Rohstoffe, ist irrsinnig. Es gibt auffällige Cluster von Krebserkrankungen in einigen durch Gasextraktion belasteten Gebieten. Es ist schwer, das medizinisch aufzuarbeiten. Die Leute machen sich Sorgen und fühlen sich vergessen. In Niedersachsen gibt es Bohrschlammgruben, die nie registriert wurden und jetzt extrem aufwändig und teuer saniert werden müssen. In Deutschland wird immer noch viel Braunkohle gefördert. Erdgas sollte eine Übergangslösung sein zwischen Kohle und erneuerbaren Energien – so die unsinnige Rechtfertigung der Gasindustrie. Dabei ist es genauso schlimm und ein fataler Umweg.

Ein anderer Aktivist aus dem Wendland erzählt, in Polen werde Fracking gerade erst richtig ausgebaut und in den USA kann die Konzentration des Erdgases im Grundwasser lokal so hoch sein, dass es sich an einem geöffneten Wasserhahn mit einem Feuerzeug entzünden lässt. In Texas wurden Arsen, Selen und Strontium im Trinkwasser nachgewiesen, im Umkreis von 2 Kilometern einer gefrackten Bohrstelle. Aus kilometerlangen Pipelines entweicht überall Methan aus Überdruckventilen. Je mehr technische Fragen ich stelle, desto mehr Fragen ergeben sich. Aber alle Fragen haben nur eine Antwort. Wir müssen aufhören, fossile Rohstoffe zu verbrennen!

Das oder so etwas ähnliches sagt auch die Sprecherin auf der Bühne in Niederländisch. Danach werden Lieder gesungen und langsam kommt Abendstimmung auf. Wir fragen das Infoteam nach einem Rücktransport. Sie wissen noch nicht, wann der Küchenbus zurückfährt und wir sollten doch den Zug nehmen. Die meisten bleiben hier, übernachten in den Zelten und entscheiden morgen, wie lange sie bleiben. Diesmal kaufen wir uns im Zug Tickets, obwohl wir noch unsere besprühten Maleranzüge tragen. Jetzt summen wir doch die Lieder vor uns hin, als wir durch die idyllische Landschaft wandern. Power to the people …

Im Camp ist es still. Kurz nach uns kommt doch noch ein Bus vom Aktionscamp. Es habe Ausschreitungen gegeben, erzählt man uns aufgeregt. Die Stimmung sei sehr angespannt gewesen, habe sich dann aber wieder beruhigt. Wir sind froh, rechtzeitig weggekommen zu sein.

Als wir uns am nächsten Morgen verabschieden, merke ich, dass eingelöst wurde, was ich mir gewünscht hatte. Ich wollte eine Hoffnung. Ich wollte den Widerstand sehen, hören und fühlen. Meine Hoffnung habe ich bekommen.

Wir fahren nach Groningen und sehen uns die Stadt an. Dieser Urlaubstag kommt mir vor wie ein Geschenk. Ich vereise nie ohne Grund. Nie nur, um woanders zu sein. Vielleicht habe ich das Prinzip von Urlaub nicht verstanden, aber vielleicht ist es auch ein Gefühl der Schuldigkeit. Wenn ich mir etwas nehme, dann muss ich auch etwas geben. Wenn ich einen Urlaub mache, dann nehme ich mir etwas. Aber was gebe ich? Und vor allem wem? Gebe ich mein Geld einer Fluggesellschaft, um eine Reise zu machen? Oder gebe ich meinen physischen Einsatz einer Umweltaktion?

Zuhause bin ich aufgewühlt, aber irgendwie glücklich. Sofort sehe ich im Internet nach den neusten Bildern von der Blockade. Es gibt keinen deutschen Beitrag. Aber viele Niederländische. Dann finde ich ein Video aus der Nacht und sehe, wie die Leute, zwischen denen ich vor wenigen Stunden noch gesessen habe, mit Gummiknüppeln geschlagen werden von den Polizisten, die gestern noch friedlich schienen.

Ich setze mich hin und heule. Meine Hoffnung werde ich wohl immer wieder erneuern müssen.

 

Franziska Hauser

 

Franziska Hauser lebt im Prenzlauer Berg und ist meist im Teeladen „Make Tea not War“ in der Heinrich-Roller Strasse 6 anzutreffen.

Ihr aktueller Roman „Die Gewitterschwimmerin“ wurde für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert.

Die Gewitterschwimmerin
EICHBORN Verlag, 431 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3-8479-0644-5

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