Kolumne Wladimir Kaminer

Sie heißt Phở

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Die asiatische Küche hat unseren Bezirk längst erobert, sie taugt perfekt für Jung und Alt, nur dorthin kann ich mit meiner Mutter und ihren Enkelkindern zusammen essen gehen. Die Essgewohnheiten und Geschmäcker der Generationen unterscheiden sich nämlich inzwischen gewaltig.

Für meine Mutter spielt die Festigkeit des Essens eine herausragende Rolle. Die Zahnärztin, die das Gebiss meiner Mutter im vorigen Jahrhundert anfertigte, hatte schon damals den gesetzlichen Rentenalterseintritt überschritten und schon längst keine Sprechzeiten mehr. Die Zähne haben im Laufe der Zeit etwas an Schärfe und Bissigkeit verloren. Eine neue Ärztin zu suchen, dazu fehlt meiner Mutter das Vertrauen in die moderne Medizin.

Die Enkelkinder verstehen die Sorgen der Oma nicht, sie stopfen das Essen schnell in sich hinein, sie sind in der Regel mit dem Essen fertig noch bevor die Oma die Speisekarte zu Ende gelesen hat und wollen das Dessert. Angesichts dieser Schwierigkeiten suchen wir für ein gemeinsames Essen eine Küche mit dem Schwerpunkt „Suppe“, damit jeder auf seine Kosten kommt. Die Suppe muss groß, heiß und sättigend sein, möglichst viele Zutaten und Kräuter beinhalten, damit jedes Familienmitglied darin etwas für sich finden kann.

Wir haben das nepalesische Street-Food-Restaurant direkt im Erdgeschoss unseres Hauses, wo man beim Rausgehen drei Mal einen goldenen Buddha im Uhrzeigesinn drehen muss, für Glück, Reichtum und eine bessere Verdauung, wie mir der nepalesische Kellner vertrauensvoll erzählte. Der Laden hatte erst vor Kurzem aufgemacht und galt selbst für meine Kids, die sonst für jede neue Gastronomie offen sind, als „zu exotisch“.

Bei dem Nepalesen werden nämlich dem Gast auf einem großen hölzernen Tablett allerlei Gaben der Natur serviert, wie sie vor der Erfindung der Mikrowelle aussahen: rohe Erbsen, Nüsse, Körner, verfeinert mit irgendwelchen Tierhaaren und zu Staub zermahlene Reiskörner auf sehr dünnen, zusammengepressten Blättchen, die mal dunkelrot und mal hellblau angemalt sind. Ich habe schon mal beim Verzehr der nepalesischen Köstlichkeiten aus Versehen in die Serviette gebissen, weil ich dachte, sie gehöre zur Vorspeise dazu.

Einige Male haben wir diese Küche probiert, nicht aus Hunger, sondern aus Solidarität mit der jungen nepalesischen Republik. Wir sind zu dem Schluss gekommen, der Nepalese braucht einfach noch etwas Zeit, bis er sich an die europäischen Geschmäcker angepasst hat.

Weiter die Straße runter haben wir einen guten Koreaner und ein thailändisches Restaurant, sie sind für die Mama jedoch beide zu scharf. Unsere perfekte Küche für alle kommt aus Vietnam, ihr Name hat nur drei Buchstaben, sie heißt Pho. Diese Suppe kann Alt und Jung gut an einem Tisch zusammenhalten, zumindest eine Zeit lang, vorausgesetzt sie wird richtig zubereitet. Wir haben in unserer Umgebung ein Dutzend vietnamesische Restaurants, es gibt den anspruchsvollen „Onkel Ho“ und den albernen Hippster „Dong Huang“, den Touristenladen „Grüne Banane“ und den intelligenten „Hanoi Village“, sie alle stehen in einem internen Wettbewerb, wer die bessere Pho macht.

Der wahre Pho-Meister ist bei uns sehr gut versteckt. Doch wir befinden uns in einer privilegierten Situation, vietnamesische Freunde meines Sohnes haben es ihm verraten, sie kennen ihn von ihren Eltern, und der Sohn hat es mir weitererzählt. Die beste Pho-Suppe wird nämlich nicht in dem schicken teuren „Village“ zubereitet und nicht in dem ach so authentischen „Onkel“, wo die Gäste auf dem Boden im Halbliegen ihre Suppe auslöffeln, sondern in einem kleinen unscheinbaren Imbiss an der Ecke. Er hat nur zwei Tische mit Bänken draußen vor der Tür. An der Hausfassade kleben Farbfotos von Salaten und Entengerichten, die Suppe ist nicht dabei.

Um die Zaubersuppe zu bekommen, muss man reingehen in die kleine Küche und zu dem freundlichen jungen Kellner ohne Vorderzähne laut und deutlich „Pho“ sagen. Man muss allerdings die drei Buchstaben richtig aussprechen, nur dann bekommt man die Suppe. Ich habe es ein paar Mal vergeblich versucht und staunte jedes Mal, wie unterschiedlich man die gleichen drei Buchstaben aussprechen kann. Doch mein Sohn kann das. Er bestellt die Suppe für alle.

Beim Phoauslöffeln beginnt die Oma ihr Lieblingsgespräch: „Und, hast du schon einen Freund bzw. eine Freundin?“, fragt sie ihre Enkelkinder. Sie schweigen.

 

Wladimir Kaminer
Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller, ist er die meiste Zeit unterwegs mit Lesungen und Vorträgen. Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.
www.wladimirkaminer.de