Chin Meyer Kolumne

Warum der Karneval stattfindet! ​

Eine Kolumne von Chin Meyer

Karneval? Geht gar nicht dieses Jahr, findet Gesundheitsminister ​Spahn und löst damit eine Welle der ​Empörung aus. Jecken speziell im Westen finden, dass ​es jetzt wirklich reicht. Urlaub gestrichen ​– kann man verknusen. ​Antalya war ja schon im ​letzten Jahr nicht mehr ​das, was es mal war, ​schon wegen Erdoğan ​und so; jetzt ist auch ​noch die Hagia Sofia ​wieder ne Moschee, ​das ist doch wie Tiramisu ​mit Döner, ​nein danke … Oktoberfest ​abgesagt – geht ​auch noch. Saufen ohne ​Tusch ist eh unkultivierter ​Quatsch … aber Karneval, ​das Fest der Feste, wo man ​mal richtig die Sau raus- und ​den Virus reinlassen könnte ​in bester Heinsberger Manier, ​das geht ja nun mal gar nicht! ​

Karneval – das war immer schon ​Ausnahmezustand, der Aufstand ​der Unanständigen, wo man nur ​mit Perücke und hinreichend Bier ​bewaffnet durch die Stadt ziehen ​und andere Besoffene beiderlei ​Geschlechts hemmungslos ​befummeln konnte, um so ​der Geburtenrate einen Turbo zu verpassen … (neun ​Monate nach Karneval steigt die tatsächlich in den ​Karnevalshochburgen an) – wenn der jetzt nicht mehr ​stattfindet, dann ist dieses Land womöglich wirklich ​am Ende.

In Berlin wissen wir schon länger, ​dass es auch ohne ​Karneval geht. Theoretisch. ​Praktisch ​musste ich das ​erst lernen, als ​ich vor einigen ​Jahren auf einer ​Weiberfastnacht ​engagiert war. ​Der Veranstalter war begeistert: Sie hätten ​ein Zelt vor dem Roten Rathaus mit 750 Damen ​darin, und dann ich in meiner Paraderolle als „Steuerfahnder“ ​mit diesem niveauvollen, bissigen Humor ​– ein garantierter Erfolg. Als ich dann ankam, waren ​noch nicht alle 750 Gäste anwesend. Um ehrlich zu ​sein, fehlten noch 700 … Aber die anwesenden 50 ​Damen waren gut. Also gut dabei. Keine war gefühlt ​unter 50 Jahre alt, und eine jede hatte gefühlt fünf ​Promille getankt. Die Damen waren hackedicht … ​

Ich begann mein Karnevalsprogramm mit diesem ​niveauvollen, bissigen Humor. Keine Reaktion. ​Erstaunte Blicke –   … Ich senkte das Niveau eingedenk ​des Schauspielermottos: Man hat ​selten daneben gelegen, wenn man das ​Niveau seines Publikums unterschätzte … ​Auch das reduzierte Niveau drang nicht zu meinem Publikum ​durch. Ich senkte noch weiter, war so schmutzig ​es geht – ich hätte genauso gut vor japanischen ​Zen-Mönchen spielen können. Die Stille hing bleiern ​im Zelt. Schließlich rief eine: „Ausziehen!“, eine weitere ​stimmte ein, bis 50 betrunkene Damen im Chor ​brüllten: „Ausziehen, ausziehen, ausziehen!“. Nun ist ​man als Performer in erster Linie auch Dienstleister ​und sollte Kundenwünsche berücksichtigen, wo es ​geht. Und Ausziehen ist eine Tätigkeit, die ich bereits ​seit vielen Jahren beherrsche. Ich winkte dem DJ, der ​spielte ein fetziges Lied, ich ließ die Hüllen fallen (bis ​auf die Unterhose – das gab die Gage dann doch nicht ​her). Die Damen grölten zufrieden. Seitdem weiß ich: ​Karneval in Berlin ist eher schwierig. ​

Aber was Corona angeht: Wo liegt das Problem? Immerhin ​ist Karneval das Fest der Verkleidung, der Masken ​… Und Masken sind momentan schwer angesagt. ​Wenn man sich den Zirkus ansieht, der rings um diese ​neue Verkleidung aufgemacht hat, mit fanatischen ​„Masken-Faschos“, noch fanatischeren „Anti-Masken- Nazis“ und der großen verwirrten Menge irgendwo ​dazwischen … Wann hat es das je gegeben, dass der ​Karneval sich ganzjährig über das ganze Land verbreitet ​und alle zu Jecken werden lässt? Politiker, Virologen, ​Corona-Skeptiker – jeder agiert närrischer ​als der andere.

Der Karneval fällt nicht aus – er hat ​schlicht das ganze Land erobert. In der Aufgeregtheit, ​mit der die Debatte zwischenzeitlich geführt wird, ist ​allerdings leider das oberste Narrengesetz verloren ​gegangen: „Jede Jeck is anders …“ ■ ​

© Fotos: Pavol Putnoki

Leben im Plus – Kabarett, Geld und mehr

Gewohnt bissig-unterhaltsam und höchst aktuell nimmt Chin Meyer, Deutschlands bekanntester Finanzkabarettist, private und politische Verheißungen und Glücksversprechen ins Visier. Denn Chin Meyer ist sicher: wir wünschen uns alle eine ausgeprägte Komfortzone und ein „Leben im Plus“.

Doch was passiert eigentlich, wenn wir dem Unerklärlichen, wie einem Hybrid aus Hippie und Kapitalist (Mark Zuckerberg) oder aus Staatschef und Idiot (suchen Sie sich jemanden aus), oder gar den Algorithmen die Macht über uns überlassen? In einem vehementen Plädoyer für Pluralismus kämpft Chin Meyer scharfzüngig und gut gelaunt für unsere Demokratie.

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