Wladimir Kaminer, russisch-deutscher Bestsellerautor, begleitete uns durch seinen Kiez. Warum die Qualität des deutschen Marihuanas überraschend ist und das Boot nicht verlassen werden darf..

Fotos: Pavol Putnoki

 

Mein Viertel: Lieber Wladimir Kaminer, du siehst müde aus?

Kaminer: Gestern hatte ich Besuch, zu dem ich nicht Nein sagen konnte. Es war ein Mann, mit dem ich vor 30 Jahren nach Deutschland kam. Er wohnte damals in der Greifenhagener Straße, ich in der Lychener Straße. Inzwischen hat er eine neue Frau. Wir haben uns zwei Jahre lang nicht gesehen. „Ich möchte auch gern deine Mutter sehen“, sagte er. „Okay“, dachte ich, „dann machen wir um 18 Uhr einen Termin und sind um 21 Uhr fertig“. Unser Treffen hat dann acht Stunden gedauert, bis um 2 Uhr nachts; er war nicht aufzuhalten.

Mein Viertel: Passiert so etwas öfter?

Kaminer: Das ist so ein typischer „Russenbesuch“. Der dauert, bis alles ausgetrunken und aufgegessen ist. Und dann heißt es: „Oh, gibt es nichts mehr? Wir müssen gehen.“

Mein Viertel: Dafür bist du schon wieder ziemlich wach.

Kaminer: Mit dem Alter braucht man weniger Schlaf.

Mein Viertel: Wie kommst du auf deine Geschichten? Sitzt du den ganzen Tag in einem Café und beobachtest die Menschen?

Kaminer: Das wäre schön! In Wahrheit wird es immer schlimmer. Ich war schon immer eine faule Sau. Aber jetzt gibt es so viel Interessantes im Leben, was man machen kann, dass ich überhaupt nicht zum Schreiben komme. Ich brauche Wochen, um eine Geschichte zu Papier zu bringen. Früher habe ich Notizen gemacht, damit ich nichts vergesse. Dann habe ich vergessen, wo die Notizen sind und ob ich überhaupt welche gemacht habe. Aber jetzt habe ich entdeckt, dass ich alles in meinem Telefon speichern kann und so nichts mehr verliere. Das mache ich inzwischen gerne. Aber wenn das „Blatt“ voll ist und schon längst klar ist, um was es in der Geschichte geht, dann musst du dich hinsetzen und arbeiten – damit habe ich Probleme.

Mein Viertel: Wo arbeitest du am liebsten?

Kaminer: Im Zug ist es sehr gut, da habe ich Zeit.

Mein Viertel: Was verbindet dich mit dem Helmholtzplatz?

Kaminer: Diese drei Straßen sind sehr wichtig für mich: Hier in der Schliemannstraße war eine ganz tolle Kneipe. Da habe ich meinen ersten Joint in Deutschland geraucht und festgestellt, dass bei uns in Russland Gras ganz anders schmeckt. In Russland haben wir große Tüten gebaut, so 100 Gramm, und man hatte dann einen leichten Rausch. In Deutschland waren die Menschen auf einem ganz anderen Niveau. Da reichte ein Zug und der Abend war gelaufen. Hinter dem Tresen hat ein Freund von mir gearbeitet, er war halb Russe halb Deutscher. Er war unser erster Dolmetscher. So konnten wir quasi das erste Mal Kontakt mit der „Urbevölkerung“ aufnehmen. In der Dunckerstraße waren die ersten Partys, auf die ich gegangen bin. Dort wohnten auch Russen im Hinterhaus. Ich glaube, dort habe ich das erste Mal Techno gehört. Das konnte mich überhaupt nicht begeistern. In der Lychener Straße habe ich meine erste Wohnung gefunden.

Mein Viertel: Warum bist du ausgerechnet nach Deutschland gekommen?

Kaminer: Die Frage nach dem Warum stellte sich für viele nicht. Der Weg aus Moskau über Ostberlin war der einzige, der rausführte aus der Heimat.

Mein Viertel: Ist das Warum für die Deutschen wichtig?

Kaminer: Ich glaube, für die Deutschen war es schon immer sehr wichtig, auch heute noch – die Frage: warum Deutschland? Was finden Menschen an diesem Land so toll? Das hat auch mit dem Selbstwertgefühl zu tun. Ich glaube, dass sich selbst die AfD-Mitglieder freuen, dass so viele Ihr Land mögen. Dass sie die Zugewanderten nicht haben wollen, ist eine andere Sache. Aber schön ist es hier. Was wäre, wenn die ganzen Flüchtlinge sagen würden: „Lieber sterben wir als in Deutschland zu sein“, das wäre nicht gut.

Mein Viertel: Stichwort Klimawandel, du hast gerade einen offenen Brief als Videobotschaft an die Bundeskanzlerin geschrieben.

Kaminer: Genau, da ging es um den Klimawandel. Wir dürfen nicht alle Probleme der Welt Greta überlassen. Als Erwachsener fühle ich mich auch zuständig dafür, obwohl natürlich Greta wegen ihres Alters viel mehr von dem Problem betroffen ist.

Mein Viertel: Hat Frau Merkel dir geantwortet?

Kaminer: Nein, wahrscheinlich kriegt sie viele solcher Briefe. Aber schön wär’s gewesen, wenn sie geschrieben hätte: Lieber Wladimir, …Aber der Brief selbst hatte viele Aufrufe.

Mein Viertel: Stichwort Engagement.

Kaminer: Dass die Deutschen so engagiert sind, finde ich super. Das ist auch so ein bisschen die Rettungsmission der Deutschen, die da leuchtet. Sie retten so gerne alles Mögliche. Ob das jetzt ein Wald ist, Griechenland, die EU oder die Deutsche Bank vor der Pleite – die Deutschen retten alles. Auch das Klima! Die Frage ist nur, was sie machen, wenn sie alles gerettet haben.

Mein Viertel: Du lebst zeitweise in einem kleinen Dorf in Brandenburg. Wie hast du die Wahl erlebt?

Kaminer: In unserem Dorf leben nur 200 Menschen. Mein Nachbar war Wahlhelfer, er konnte immer erkennen, wer die AfD wählt. AfD-Wähler wollen nicht, dass jemand sieht was sie wählen. Sie falten ihre Zettel zwei- und dreimal. Alle anderen nur einmal.

Mein Viertel: Machst du dir Sorgen, dass Deutschland wieder nach rechts rückt?

Kaminer: Deutschland ist super, das ist einfach eine große Herausforderung. Nicht Deutschland rückt nach rechts, diese Entwicklung illustriert den erbitterten Widerstand der archaischen Kräfte gegen moderne Zeiten. Die archaischen Kräfte wollen nicht untergehen – verständlich auch, wer will das schon? Für Menschen, die für sich keinen Platz sehen in diesem Jahrhundert, steht viel auf der Karte. Das ist kein Rechtsruck wie vor 100 Jahren.

Mein Viertel: Teilweise hat man das Gefühl, das Land wird gespalten. Wie ist deine Sicht?

Kaminer: Meine Sicht der Dinge ist natürlich, dass niemand weg soll, niemand soll das Boot verlassen. Diese Welt ist so gebaut, dass sie alle Menschen braucht. Ich denke, wir sind alle zum Teil archaisch und modern. Diese Trennung ist sehr schwierig.

Mein Viertel: Wie geht es der Familie? Wie geht es deiner Mutter?

Kaminer: Meiner Mutter geht es gut, sie wird jetzt 88. Mein Sohn findet nicht wirklich eine Beschäftigung, aber er sucht auch nicht. Er glaubt, dass diese Beschäftigung von allein kommt. Er will Kunst machen und er sagt: „Kunst kann man nicht lernen. Das, was du lernst, ist nur Handwerk. Und ich will kein Handwerk. Kunst ist mehr als Handwerk.“Ich antworte dann immer: „Okay, diese Kunst – wenn man sie nicht lernen kann, wie trefft ihr euch dann? Kommt die Kunst und fragt: ‚Darf ich rein?‘?“ Seine Antwort ist immer: „Das weiß ich noch nicht, das wird aber.“

Mein Viertel: Und deine Tochter?

Kaminer: Meine Tochter wird 23. Ich weiß sogar inzwischen, was sie studiert; ich studiere praktisch mit. Sie gibt mir immer viele Bücher zum Lesen. Bücher, die mich als Sexisten und Rassisten auf einen besseren Weg bringen. Jeder von uns ist es, das ist mir inzwischen auch klar geworden. Das liegt nicht an unserer Überzeugung, sondern an unserem Umfeld. Ein Buch beschrieb gerade, wie verkalkt wir Menschen sind: Ein fünfjähriges Kind sagt auf die Frage „Wo kommst du her?“: „Von der Toilette.“ Einen Monat später hat dasselbe Kind eine ganz andere Antwort: „Ich bin fünf Jahre alt und seit zehn Jahren in Deutschland.“ Warum? Es hat gelernt, dass die Menschen Hautfarbe und Herkunft seiner Eltern auf es projizieren. Seine Eltern sind seit zehn Jahren in Deutschland und daraus resultiert dieser Quatsch. Das ist alles neu für mich. Ich habe das niemals ernst genommen, erst seitdem meine Tochter studiert.

Mein Viertel: Was ist das Thema deines nächsten Buches?

Kaminer: Im nächsten Buch geht es um diese spannende Lebensphase, wenn die Kinder immer älter und die Alten immer kindischer werden. Als Idee möchte ich über Deutschland schreiben, Deutschland als Traumland. Alle kritisieren Deutschland. Ich habe mir vorgenommen ein Lob zu schreiben auf dieses tolle Land, aber dann werden es alle lesen und sagen: „Der verarscht uns doch!“

Mein Viertel: Du hältst uns oft den Spiegel vor, kann man dir böse sein? Bekommst du böse E-Mails?

Kaminer: Wenn ich zum Beispiel Kritisches schreibe über Putin und sein Regime in Russland, dann bekomme ich, so glaube ich, Briefe von Ostdeutschen. Warum? Sie sind blind und taub was die aktuelle Situation bedingt. Für sie ist Putin gleich Russland, Russland ist der beste Freund und deutsch-sowjetische Freundschaft war eine Bildungsgrundlage ihres Umfeldes. Das ist sehr sehr wichtig für sie. Deshalb sehen sie in mir jemanden, der quasi gegen die Freundschaft ist. Obwohl ich immer genau das Gegenteil behauptet habe: Freundschaft ist wichtig, die Menschen sind okay, sie haben Probleme mit der politischen Führung. Durch die Mängel dieses autoritären Systems können sie praktisch das politische Personal nicht abwählen. Also quälen sie sich und kommen in diese idiotische Situation.

Mein Viertel: Du hattest Probleme oder Angst nach Russland zurückzureisen und die Familie zu besuchen. Wie sieht es jetzt aus?

Kaminer: Ich habe nicht versucht ein Visum zu bekommen. Ich habe nur Warnungen bekommen von Nicht-Regierungsstellen, die mir aufgrund meiner kritischen Berichterstattung drohten. Da ich von Natur aus kein Held bin, dachte ich: „Na gut, machen wir eine Pause.“ Das ist eine dramatische Situation. Russland ist 2018 auf Platz 3 gelandet auf der Liste der Länder, aus denen nach Indien und Mexiko ausgewandert wird. Das gab es vorher eigentlich nie. Letzte Woche habe ich in Köln bei einem Radiosender mit einer türkischen Kollegin gesprochen. Sie erzählte mir von einem neuen Phänomen: Neutürken. Die Menschen, die aus der Türkei vor Erdoğan fliehen, etwa 40–50.000. Genau dasselbe Phänomen gibt es in Russland. Weil ökonomisch und wirtschaftlich kaum noch etwas möglich ist in Russland, musst du entweder mit dem System kooperieren oder gehen. Menschen, die dort gegen das System kämpfen, das sind in meinen Augen Helden.

Mein Viertel: Wie geht es weiter?

Kaminer: Die wahre Revolution dieses Jahrhunderts ist, glaube ich, dass man fragt: „Muss ich jetzt hier mein Leben und das meiner Familie riskieren, damit in 30 Jahren ein anderer an die Macht kommt? Oder ziehe ich 500 km weiter, wo alles schon geregelt ist und beginne ein neues Leben?“ Das ist eine harte Wahl. Deswegen unterstütze ich das nach Möglichkeiten.

Mein Viertel: Stichwort Europa.

Kaminer: Ehrlichgesagt interessiert mich die Zukunft der EU mehr als die Zukunft Russlands. Ich bin Optimist. Ich glaube, es geht. Ich denke, dass die Vordenker einfach zu große Schritte gemacht haben. Und mit der Behauptung, es gäbe keinen Unterschied zwischen einem Franzosen und einem Italiener, können viele nicht leben: „Was sagen die? Natürlich gibt es Unterschiede!“ Sie sprechen verschiedene Sprachen. Sie haben unterschiedliche Kulturen. Wenn ich meine Tochter frage, sie studiert an der Humboldt-Universität: „Gibt es einen Unterschied zwischen Italienern und Franzosen?“, dann sagt sie natürlich „Nein“. Das ist eine knifflige Frage. Durch die Entstehung der in Union hat Europa enorme Vorteile bekommen. Das merken junge Leute mehr als alte. Weil die Alten immer länger brauchen, die Jungen sind schneller.

Mein Viertel: Was ist typisch für das Aufwachsen in Prenzlauer Berg?

Kaminer: Die Spätfolgen des Aufwachsens in Prenzlauer Berg sind, dass meine Kinder am liebsten Asiatisch essen. Die zweite Sache ist: Sie sitzen ständig auf irgendwelchen Dächern. Genau wie wir, ich bin ja auch 23 gewesen als ich hierherkam, da saßen wir auch auf den Dächern. Ich glaube sogar, es sind noch dieselben Dächer in denselben Häusern, die immer noch nicht zugemacht worden sind. Viel hat sich nicht verändert. Natürlich, die Läden haben alle zugemacht, jetzt heißen sie anders, die Suppe ist die gleiche geblieben.

Mein Viertel: Also ein kleines Paradies?

Kaminer: Ein Paradies ist in meiner Auffassung ein nebliger Ort. Nebel versteckt vieles und lässt Raum für Fantasien, damit man die Einzelheiten nicht erkennt. Was braucht man für ein erfülltes Leben? Ein Eis für die Kleinen, ein Bier für die Erwachsenen und Blumen für die Frau.

Mein Viertel: Kultur und Politik? Passt das zusammen?

Kaminer: Eigentlich etwas, was überhaupt nicht zusammengehört. Das sind zwei gegensätzliche Pole, die sich ausbalancieren. Wenn Politik in Kultur eingreift, das geht nicht. Dann wird es hier wie in Russland. In Russland hat es zur Folge, dass alle Künstler, die Rang und Namen haben, weg sind. Sie sitzen in Prag, in Berlin oder in London. Die ganze russische Bestsellerliste wohnt im Ausland. Sie schreiben auf Russisch für Russen, wohnen aber nicht dort.

Mein Viertel: Lieber Wladimir, vielen Dank für das Gespräch.