Folge 4

Rund um den Hackeschen Markt

Ein Einkaufsbummel in den Straßen rund um den Hackeschen Markt gehört bei einem Berlin- Besuch – so das landläufige Urteil vieler Reiseführer – zum Pflichtprogramm. Flagshipstores bekannter Modemarken, kleine Designerläden, exquisite Schuhgeschäfte und schmuddelfreie Erotik-Stores zeugen ebenso von der touristischen Attraktivität des Viertels wie schicke Restaurants, trendige Bars und das eine oder andere Designhotel.

Schon zur Jahrtausendwende galt das erst kurz zuvor aus dem Dornröschenschlaf erweckte Viertel als eine der teuersten Gegenden der Stadt. Und so erfreut und erstaunt es gleichermaßen, dass einige bemerkenswerte Kultureinrichtungen hier, teilweise seit vielen Jahren, fest verankert sind.

Dort, wo heute die S-Bahn auf einem Viadukt in den Bahnhof Hackescher Markt einfährt, trennten im ausgehenden 17. Jahrhundert ein Festungsgraben und eine Stadtmauer Alt-Berlin von der Spandauer Vorstadt. 1671 durften sich hier, unmittelbar vor dem Spandauer Tor, per Dekret des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm fünfzig aus Wien vertriebene jüdische Familien ansiedeln.

Sophienkirche

In den Folgejahren begann entlang der Oranienburger, der Hamburger und der Rosenthaler Straße ein regelrechter Bauboom. 1710 sollen bereits 500 Wohnhäuser hier gestanden haben, 1713 erhielt der Vorort mit der Sophienkirche sein eigenes protestantisches Gotteshaus. Die jüdische Gemeinde, die zur selben Zeit fünf Gehminuten entfernt auf Alt-Berliner Gebiet ihre erste öffentliche Synagoge errichtete, trat für das Versprechen von ewiger guter Nachbarschaft einen Teil ihres Grundstücks an die christliche Gemeinde ab.

Namensgeberin der Pfarrkirche war Sophie Luise von Mecklenburg-Schwerin, die dritte Ehefrau des preußischen Königs Friedrich I. Die der lutherischen Konfession zugewandte Königin hatte eine bedeutende Summe aus Ihrem Privatvermögen zur Besoldung der Prediger, Organisten und Küster gestiftet.

Zwanzig Jahre nach der Weihe erhielt die von Philipp Gerlach als Saalbau konzipierte Kirche ihren barocken Turm, für den der Turmbaumeister Johann Friedrich Grael verantwortlich zeichnete.

Zur selben Zeit wurde die Spandauer Vorstadt nach Berlin eingemeindet, woraufhin die alte Stadtmauer geschleift und der Festungsgraben zugeschüttet wurden. 1750 beauftragte Friedrich II. den Berliner Stadtkommandanten Hans Christoph Friedrich von Hacke, die Freiflächen in diesem Areal zu bebauen, woraufhin ein großflächiger Marktplatz entstand, der heute den Namen des Grafen trägt.

In den folgenden Jahrzehnten ließen sich in der Spandauer Vorstadt vor allem jüdische und französische Einwanderer nieder. Während sich nordwestlich des Hackeschen Marktes die gut betuchte jüdische Gemeinde mit der Großen Synagoge an der Oranienburger Straße im Jahr 1866 ein weithin sichtbares Denkmal setzte und die Sophienkirche 1893 als erstes Berliner Gotteshaus elektrische Beleuchtung erhielt, entwickelte sich die östliche Spandauer Vorstadt, das sogenannte Scheunenviertel, im 19. Jahrhundert zum Armenhaus der Stadt.

Um den katastrophalen sozialen Zuständen in den überfüllten, verfallenden Altbauten Herr zu werden, beschloss der Berliner Magistrat Anfang des 20. Jahrhunderts eine umfassende Neugestaltung des Scheunenviertels, die auch rund um den Hackeschen Markt bauliche Veränderungen mit sich brachte. So entstand in jenen Jahren an der Nordseite des Platzes, zwischen Rosenthaler Straße und Sophienstraße, auf 9.200 m² die größte Wohn- und Gewerbehofanlage Deutschlands.

Fassade von August Endell in den Hackeschen Höfen

Die im September 1906 eröffneten Hackeschen Höfe wurden von dem Bauunternehmer und Architekten Kurt Berndt unter dem Einfluss der Lebensreformbewegung konzipiert: Die Grünflächen des Jüdischen Friedhofs und des evangelischen Sophienkirchhofs ließen Luft und Licht in den acht Höfe umfassenden Baukomplex, der neben achtzig Mietwohnungen, von denen zahlreiche Balkone hatten und alle mit Bädern, Innentoilette und Zentralheizung ausgestattet waren, auch Büro- und Geschäftsflächen sowie Fabriketagen aufwies.

Eine Mischnutzung prägt die Höfe bis heute: Wo früher Werkstätten, Kleinbetriebe und Großhandlungen untergebracht waren, findet man seit der denkmalgerechten Sanierung Mitte der 1990er-Jahre eine Galerie, Manufakturen, Edelboutiquen, Souvenirgeschäfte, Showrooms und Kreativagenturen.

Damals wie heute ist die Kultur im ersten Hof zu Hause, der durch seine orientalisierende Jugendstilfassade besticht, die August Endell entworfen hat. Der Designer stattete darüber hinaus im ersten Quergebäude zwei prachtvolle Festsäle aus. Originalgetreu restauriert beherbergt der untere seit 2004 das rund 300 Zuschauer fassende, der Tradition des Varietés verhaftete Chamäleon Theater. Als erstes Haus gab es dem New Circus in Berlin eine Heimat und zeigt pro Jahr zwei bis drei anspruchsvolle, innovative Produktionen, die atemraubende Akrobatik, virtuosen Tanz, mitreißende Musik, eine Prise Sex und eine ordentliche Portion Humor miteinander vereinen.

Jugendstiltreppenhaus in den Hackeschen Höfen

Eine Etage höher ist von August Endells Gestaltungswillen nichts mehr zu sehen. Hier ist seit 1996 das Hackesche Höfe Kino zu Hause, das in fünf Sälen – fernab des Mainstreams – vor allem deutsche und europäische Filmproduktionen in der Originalfassung mit deutschen oder englischen Untertiteln zeigt und dabei dem Dokumentarfilm breiten Raum einräumt. So steht Hubertus Siegerts Doku „Berlin Babylon“, die den Stadtentwicklungsprozess in den 1990er-Jahren kritisch, aber auch humorvoll unter die Lupe nimmt, täglich auf dem Programm.

Kino Central

Nur eine Hausnummer weiter, in der Rosenthaler Straße 39, befindet sich mit dem Kino Central ein weiteres kleines Filmtheater, das sich ebenfalls dem Arthouse-Kino verschrieben hat, darüber hinaus aber auch ein umfangreiches Kinder- und Jugendfilmprogramm anbietet.

Eschschloraque Rümschrümp | Monsterkabinett | Streetart Haus Schwarzenberg

Nur für unerschrockene Kinder geeignet ist hingegen das Monsterkabinett, dass sich unterhalb der verwunschenen Terrasse des Kinos befindet und lediglich nach Voranmeldung zu besichtigen ist. Die Künstlergruppe Dead Chickens lädt mittwochs bis sonnabends zu halbstündigen skurrilen Gruselshows in einen von quietschenden und scheppernden kinetischen Metallskulpturen bevölkerten Keller.

Wer von den geschweißten Monstern mit ihren klappernden Augen und Zähnen nicht genug hat, sollte unbedingt im Eschschloraque Rümschrümp den Abend ausklingen lassen. Durch den ebenfalls von den Dead Chickens gestalteten Künstlerclub, in dem alternative Live-Musik, experimentelle Performance und nicht enden wollende DJ-Sets das Programm bestimmen, wabert – so meinen die Betreiber selbst – „ein irgendwie nostalgisch-vibrierender Esprit der 90er-Jahre“, in denen der Club als eine der ersten Underground-Cocktailbars Berlins eröffnet wurde.

Kino, Keller und Klub befinden sich zusammen mit zwei kleinen Galerien im zweiten Hof des Hauses Schwarzenberg, das sich in den high-end-sanierten Straßenzügen rund um den Hackeschen Markt wie ein Fremdkörper ausnimmt: Farbenfrohe Graffitis, Paste-ups und Sticker zieren hier leiterhoch die rauen Wände. Darüber scheint der historische Putz von den Ziegeln zu bröckeln, er wurde jedoch vor zehn Jahren behutsam und denkmalschutzgerecht als ein bedeutsames Stück Berliner Geschichte konserviert.

Blindenwerkstatt Otto Weidt | Ausstellung in der Blindenwerkstatt | Ausstellung im Anne-Frank-Zentrum

Aus gutem Grund, denn Geschichte wurde hier tatsächlich geschrieben: Während des Zweiten Weltkriegs betrieb der Kleinfabrikant Otto Weidt im ersten Obergeschoss des vorderen Seitenflügels eine Bürstenbinderwerkstatt, in der vor allem blinde und gehörlose Juden arbeiteten. In ebenjenen Räumlichkeiten erzählt eine Dauerausstellung von Weidts Bemühungen, seine Angestellten vor der Deportation zu bewahren und ihnen zur Flucht zu verhelfen. So versteckte er mehrere Menschen in einem Hinterraum der Blindenwerkstatt, vor dessen Tür ein großer Schrank geschoben wurde.

Wer hier an Anne Frank denken muss, kann seine Erinnerungen direkt auf der anderen Hofseite auffrischen. Dort befindet sich das Anne-Frank-Zentrum, das mit der modern und interaktiv gestalteten Ausstellung „Alles über Anne“ an das jüdische Mädchen erinnert, das nach dem frühen Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen durch sein Tagebuch weltberühmt wurde.

Verlässt man das Haus Schwarzenberg linkerhand und biegt in die Sophienstraße ein, kann man in Höhe des Sophienkirchhofs an einer auffälligen Fassade den aus Schmuckziegeln gebrannten Schriftzug „Berliner Handwerker-Verein“ lesen. Der 1904/05 als Weiterbildungs- und Veranstaltungsstätte errichtete Gebäudekomplex besteht aus über 90 Räumen, von denen der Festsaal und das im Erdgeschoss gelegene Restaurant schon früh unter dem Namen „Sophien-Säle“ verpachtet wurden. Nach einer wechselvollen Nutzungsgeschichte der Räumlichkeiten als Theater, Versammlungsort der revolutionären Linken, Produktionsstätte für NS-Flugblätter und Werkstätten des Maxim-Gorki-Theaters gelten die Sophiensæle seit ihrer Reaktivierung als Veranstaltungsort im Herbst 1996 als eine der wichtigsten Produktions- und Spielstätten für die freien darstellenden Künste im deutschsprachigen Raum.

Sophiensaele | Magicum Berlin

Ein Geheimtipp ist die in den angrenzenden Sophie-Gips-Höfen gelegene Sammlung Hoffmann. Seit 1997 sind die in einer großzügigen Fabriketage befindli-chen Wohn- und Arbeitsräume des Ehepaars Hoffmann einmal wöchentlich der Öffentlichkeit zugänglich. Jeden Sonnabend hat man – nach Voranmeldung – die Möglichkeit, die jeweils im Juli neu arrangierte Ausstellung zu besuchen. Unter dem Motto „Picknick“ kann man derzeit u.a. Kunstwerke von Joseph Beuys, Dan Flavin oder Gerhard Richter bestaunen.

Staunen kann man auch im Magicum, das seit fünf Jahren auf der anderen Seite der Sophienkirche, in der Großen Hamburger Straße beheimatet ist. Das Magie-Museum informiert mit einer überschaubaren Anzahl von Exponaten über Alchemie und Astrologie, gibt kurze Einführungen in die großen Weltreli-gionen, stellt die Magie der Naturvölker vor und die Hexerei zur Schau. An zahlreichen Stationen werden Spieltrieb und Neugierde geweckt: So kann man sein chinesisches Sternzeichen errechnen, dem Aberglauben frönen, sich die Karten legen, eine Wasserschale zum Klingen und vielleicht sogar zum Schwingen brin-gen, Rätsel lösen und sich an Zaubertricks die Zähne ausbeißen.

Und wenn man nach so viel Kultur etwas zwischen den Zähnen braucht, die man nicht im Magicum gelassen hat, bietet sich ein Besuch im nahe gelegenen Sophieneck an. Mehr Alt-Berlin gibt es in der Spandauer Vorstadt nicht. Ich empfehle die Bouletten mit Schmorgurken und Bratkartoffeln. ■

 

Text & Fotos: Marc Lippuner

Marc Lippuner hat Germanistik, Geschichte sowie Kultur- und Medienmanagement studiert. Nach Jahren als Theatermacher leitet er seit 2017 die WABE im Herzen von Prenzlauer Berg. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlin-Liebe.
Auf Twitter postet er nahezu jeden Tag einen #Berlinfakt, im Frühjahr erschien sein Spaziergangsführer für den Großbezirk Pankow im Elsengold-Verlag.
Für unser Magazin begibt er sich auf kulturelle Entdeckungsreisen durch die Berliner Kieze, darüberhinaus gibt es immer eine Handvoll Empfehlungen für Kultur-Events, die man im kommenden Quartal seiner Meinung nach nicht verpassen sollte.