Kulturfritzen

Mit den Kulturfritzen Kultur im Kiez entdecken – Folge 9: Niederschönhausen

Folge 9:

Niederschönhausen

Nachdem wir im letzten Heft zu einem Spaziergang rund ums Schloss Schönhausen eingeladen haben, zeigen wir euch diesmal, was es in Niederschönhausen sonst noch Kulturelles zu entdecken gibt.

Die Landgemeinde Niederschönhausen zählte mit Schloss und Schlosspark im frühen Kaiserreich schon zu den beliebten Ausflugszielen der Berlinerinnen und Berliner, befördert wurde dies durch die 1877 angelegte Nordbahn mit den Bahnhöfen Reinickendorf (heute Schönholz) und Prinzenallee (heute Wollankstraße), sowie den 1880 eingerichteten Bahnhof Pankow-Schönhausen (heute Pankow) an der Stettiner Bahnlinie. Wohlhabende Familien begannen Landhäuser und Villen zu errichten und sich hier dauerhaft niederzulassen.

Straßenbahn-Betriebshof Niederschönhausen, Dietzgenstraße 100

Mit der Eröffnung einer Pferdebahnlinie vom Roten Rathaus zur Friedenskirche wurde Niederschönhausen auch für Baugenossenschaften interessant, die das Terrain beidseitig der heutigen Dietzgenstraße und Grabbeallee durch Nebenstraßen erschlossen, um kleinere Landhäuser und größere Wohnquartiere zu errichten. Zur Jahrhundertwende baute die Große Berliner Straßenbahn AG (GBS) die Strecke aus und betrieb sie ab 1901 elektrisch. Im Zuge dieser Erweiterung entstand an der nördlichen Gemeindegrenze ein Straßenbahndepot, das 190 Bahnwagen Platz bot.

Der Entwurf der Halle mit ihren 19 romanisierenden Rundbogentoren geht auf den technischen Leiter der GBS, Joseph Fischer-Dick, zurück, der zeitgleich auch an sieben anderen Orten in Berlin und seinen Vororten Betriebshöfe für den elektrischen Straßenbahnbetrieb realisierte. 1924 wurde die Anlage durch Jean Kraemer (dem Architekten des Verkehrsturms am Potsdamer Platz) erweitert und erhielt ihre heutige neusachliche Anmutung. Der am 26. Mai 1901 eröffnete Betriebshof Niederschönhausen ist der einzige jener acht, der noch betriebsfähig ist. Bis vor wenigen Jahren beheimatete der Denkmalpflegeverein Nahverkehr Berlin (DVN) in dem Depot seinen Bestand an historischen Fahrzeugen der Berliner Straßenbahn. Mittlerweile ist ein Teil des Gebäudekomplexes einsturzgefährdet. Trotz Denkmalschutzauflagen lassen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) die nicht genutzten Objekte des Areals verfallen und sollen nun – notfalls mithilfe von Gerichten – zur Sicherung verpflichtet werden.

Siedlung der Straßenbahner, Schillerstraße 23–37

Ebenfalls denkmalgeschützt und wesentlich besser in Schuss ist die Siedlung der Straßenbahner, die zwischen 1927 und 1930 in der Schillerstraße, direkt hinter dem Betriebshof, errichtet wurde. 76 Wohnungen entstanden in fünf zwei- und dreistöckigen Klinkerbauten, die Karl Mohr und vermutlich auch Jean Kraemer entwarfen. Aufgelockert wird die gleichförmige Bauweise durch große Rasenflächen und eine gegliederte Heckenbepflanzung, sodass das Ensemble seine Herkunft aus dem städtebaulichen und sozialen Geiste des Neuen Bauens nicht verleugnen kann.

Max-Delbrück-Gymnasium, Kuckhoffstraße 2

Drei Tramstationen stadteinwärts steht an der Dietzgenstraße, Ecke Kuckhoffstraße ein von Gemeindebaurat Carl Fenten in Formen der Spätrenaissance errichtetes Gebäude, in dem heute die Max-Delbrück-Schule ansässig ist. Errichtet wurde das Gebäude zwischen 1908 und 1910 als Rathaus für die Landgemeinde Niederschönhausen. Mit der Bevölkerungsexplosion im ausgehenden 19. Jahrhundert wuchsen die kommunalen Aufgaben und machten ein funktionsfähiges Rathaus notwendig, mit der Eingemeindung zu Groß-Berlin übernahm das Rathaus Pankow ein Jahrzehnt später die Verwaltungspflichten, sodass 1928 der Umbau zum Reform-Realgymnasium erfolgte.

Brosehaus, Dietzgenstraße 42

Das Grundstück hatte die Gemeinde um 1900 von Karl Brose geschenkt bekommen, dessen Vorfahren ab 1818 großflächig Land in Niederschönhausen erworben hatten. So auch den Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite, auf dem ein historisches Häuschen steht, in dem seit 1994 der Freundeskreis der Chronik Pankow seinen Sitz hat. Überraschenderweise ist der Verein der Erstmieter des Gebäudes, denn es ist die nach historischem Vorbild wiederaufgebaute Rekonstruktion eines 1764 errichteten Küsterhauses, das – wie auch der dahinterliegende Park – den Namen der Bankiersfamilie Brose trägt, die wie keine zweite maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung Niederschönhausens hatte.

Schinkel-Veranda am Gelehrtenheim, Beuthstraße 53

Nur wenige Meter nördlich des Brosehauses ließ der Patriarch der Familie, Christian Wilhelm Brose, 1825 ein Bauernhaus im Schweizer Landhausstil umbauen und beauftragte seinen Freund Karl Friedrich Schinkel mit dem Anbau einer Veranda, die im pompejanischen Stil bemalt wurde.

Holländerhaus, Dietzgenstraße 51/53

Kunstvoll bearbeitetes Holz weist auch das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf, das Broses Schwiegermutter 1816 errichten ließ. 1851 erwarb der Fabrikant August Hauschild den Besitz, ein Jahr später zierte der mit neogotischen Schnitzereien verzierte Balkonanbau von Ludwig Schultz das seitdem als Holländerhaus bekannte Wohnhaus, das ebenso wie die dahinter versteckte Backsteinremise Schinkelscher Formensprache unter Denkmalschutz steht.

Katholische Kirche St. Maria Magdalena, Platanenstr. 22b

Schlendert man die Platanenstraße entlang, stößt man nach 400 Metern auf die katholische Maria-Magdalena-Kirche, die 1929/30 nach Entwürfen von Felix Sturm entstand, ein Architekt, über den bedauerlicherweise nichts weiter bekannt ist, als dass er Gemeindemitglied war. Das kantige Äußere des expressionistischen, dunkel verklinkerten Prachtbaus steht in überraschendem Kontrast zu dem bogenförmig ausgeführten Innenraum. Sehenswert ist auch der Innenraum der 60 Jahre älteren neoromanische Kirche am Ossietzkyplatz, die wegen ihrer Fertigstellung zum Ende des deutschfranzösischen Krieges 1871 als Friedenskirche eingeweiht wurde (mehr dazu im letzten Heft). Am südlichen Ende des Ossietzkyplatzes beginnt die Hermann-Hesse-Straße.

Galerie Solitaire, Hermann-Hesse-Straße 64

Folgt man ihr über den Pastor-Niemöller-Platz hinaus, gelangt man in die Schönholzer Heide. Auf dem Weg dahin kommt man an der Solitaire-Galerie vorbei, die im Basement des gleichnamigen Hotels in der Hermann-Hesse-Straße 64 residiert. Drei bis vier Ausstellungen zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler werden hier pro Jahr präsentiert, bis 8. Januar zeigt die Berliner Künstlerin Andrea Engelmann Bilder und Blätter.

Ehemalige irakische Botschaft, Tschaikowskistraße 51

Spaziert man weiter Richtung Schönholzer Heide, schimmert an der Ecke zur Tschaikowskistraße durch den dichten Baumbestand hindurch der einzige Zwillingsbau der an der Grabbeallee stehenden ehemaligen Australischen Botschaft. 1974 bezog die Botschaft des Irak den Plattenbau mit einer Fassade aus Carrara-Waschbeton und einer von der Keramikerin Hedwig Bollhagen gestalteten geklinkerten Außenfassade. Seit 1991 steht das Gebäude leer und verfällt.

Die Schönholzer Heide, die mit einem weitverzweigten, unbefestigten Wegesystem dazu einlädt, den Großstadtrubel zu vergessen, war bereits um die Jahrhundertwende ein beliebtes Naherholungsgebiet. Die Schützengilde erwarb um 1880 das kleine Schloss Schönholz und ließ daneben ein schmuckvolles, heute noch erhaltenes Schützenhaus im Stil des Spätklassizismus errichten. Beim Durchstreifen des Waldgeländes kann man sich nicht mehr vorstellen, dass hier 1931 mit dem Traumland ein Vergnügungspark eröffnet wurde, dessen Hauptattraktion eine 18 Meter hohe Achterbahn war. Auch, dass nach der Schließung im Jahr 1939 auf dem Gelände ein Lager für ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingerichtet wurde, ist nicht mehr ersichtlich.

von links: Schützenhaus, Hermann-Hesse-Straße 82 | Das sowjetische Ehrenmal | Grab Fritz Cremers auf dem Friedhof Pankow III, Abt. 40–13

Mit viel Glück stößt man auf Überreste des 1945 ausgebombten Schlosses Schönholz, auf Betonplatten dreier Luftschutzbunker oder auf den Kriegsgräberhain, der einzig noch erhalten ist von dem 1943 angelegten und längst entwidmeten Friedhof Pankow VI, in dem auch viele Berliner Opfer der Bombenangriffe ihre letzte Ruhe fanden. Zu Grabe getragen wurden im nordwestlichen Teil der Heide auch 13.200 in der Schlacht um Berlin gefallene Soldaten der Roten Armee. Ihnen zum Gedenken entstand hier zwischen 1947 und 1949 das jüngste der vier in Berlin errichteten sowjetischen Ehrenmale. Durch ein Portal mit zwei Bronzereliefs führt der Weg geradewegs zu einem 33,5 Meter hohen Obelisken, vor dem eine von Iwan G. Perschudtschew geschaffene Statue der um ihren Sohn trauernden „Mutter Heimat“ platziert ist. 100 Bronzetafeln an der den Ehrenhain umgebenden Mauer gedenken der hier bestatteten Soldaten, von denen nur ein Fünftel identifiziert werden konnte.

Südlich der Schönholzer Heide befindet sich mit dem 1905 eröffneten Friedhof Pankow III die größte kommunale Begräbnisstätte des Bezirks, auf der zahlreiche Prominente ihre letzte Ruhe gefunden haben, unter ihnen die Widerstandskämpfer Hans Litten und Anton Saefkow, die Künstler Fritz Cremer und Max Lingner, der Erfinder des Fernsehens, Paul Nipkow, die Schauspielerin Marianne Wünscher, der Sänger und Schauspieler Ernst Busch, der Chefarchitekt des Palastes der Republik, Heinz Graffunder, die Schriftstellerin Inge Müller sowie zahlreiche Politiker der DDR. ■

Text & Fotos: Marc Lippuner

 

Marc Lippuner leitet seit 2017 die WABE, ein Kulturzentrum im Herzen von Prenzlauer Berg. Nebenbei frönt er mit den von ihm gegründeten Kulturfritzen, einem kleinen Projektbüro für kulturelle Angelegenheiten, seiner Berlinliebe:
So hat er mit “Die Kulturfritzen – eine Stunde Berlinkultur” eine monatliche Radiosendung bei ALEX Berlin (UKW 91null) und wöchentlich den Kulturfritzen-Podcast.
Für unser mein/4-Magazin begibt sich Marc Lippuner regelmäßig auf kulturelle Entdeckungsreisen durch die Berliner Kieze, darüber hinaus empfiehlt er eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen seiner Meinung nach auf keinen Fall verpassen sollte…

Im Elsengold-Verlag erscheinen seit 2019 seine Wandkalender zur Berliner Geschichte. In seinem Stadtführer „Berliner Spaziergänge: Pankow – mit Prenzlauer Berg und Weißensee“ bietet Marc Lippuner fünf ausgedehnte Touren durch den Großbezirk an, von denen eine auch durch Niederschönhausen führt. Für unser Magazin unternimmt Marc Lippuner kulturelle Entdeckungsreisen durch Berliner Kieze, empfiehlt eine Handvoll Kulturevents, die man in den kommenden Wochen auf keinen Fall verpassen sollte, und stellt aktuelle Berlin-Bücher vor.