Mode

Die große Freiheit – Mode in Berlin

Modisch geht in Berlin alles. Aber die Vielfalt ist kein Zufall, sondern gewachsene Tradition.

© Foto: Janine Sametzky

Die Frauen in den pastellfarben und asymmetrisch geschnittenen Kleidern sind hochaufgeschossen und schlank, groß und kurvig, klein und rundlich, filigran und normalgroß, dunkelhäutig und hellhäutig, asiatisch, indisch, kaukasisch und afro-amerikanisch, lockig, glatthaarig, und aus ihren Augen können sie Laserblitze schießen. Letzteres nur in dem Film „Superpowers“, mit dem die in Berlin ansässigen Modedesignerinnen Christa Bösch und Cosima Gadient ihre Mode für das kommende Frühjahr vorstellen.

Alles andere aber ist echt und damit eher ungewöhnlich. Denn Diversität ist in der internationalen Mode noch immer nicht die Norm. Die beiden Designerinnen, die ihre Entwürfe auf der Paris Fashion Week zeigen, setzen mit ihrem Casting, das Frauen unterschiedlicher Ethnien, mit unterschiedlichen Körperformen zeigt, wichtige Akzente. Christa Bösch und Cosima Gadient präsentieren ihr Label Ottolinger in Paris, der unangefochtenen Welthauptstadt der Mode. Aber ihre Ideen entwickeln die gebürtigen Schweizerinnen in ihrem Studio in Berlin; ein Zufall ist das nicht.

Denn Berlin mag keine Modestadt sein, kaum jemand ist hier so elegant gekleidet wie in Mailand, so exzentrisch gepflegt wie in Großbritannien, so sportlich- lässig wie in New York, so hyper-trendbewusst wie in Schanghai oder so unangestrengt chic wie in Paris. Doch in keiner dieser Modestädte ist man so hemmungslos frei wie in Berlin. Das prägt den Stil der Stadt, macht sie zukunftsträchtig und darin liegt die Chance, die Schönheit und die Verantwortung für alle, die in dieser Stadt leben.

© Foto: Janine Sametzky

Aber was genau macht denn die Freiheit aus, die den Stil der Berlinerinnen und Berliner prägt? Woher kommt sie und wie sieht sie aus? Ein kurzer Rückblick hilft (siehe Artikel “Kurze Geschichte der Berliner Modebranche“). In der jüngeren Geschichte zieht Berlin seinen Freiheitsgrad aus der Sonderstellung der Stadt: Bis 1989 ist Westberlin eine Insel, in der Luxus weniger als materieller Reichtum existiert, sondern in Form von Freiheit und freier Zeit. Hier gründen sich Bands wie die „Einstürzenden Neubauten“ und „Die Tödliche Doris“, hierhin zieht es Künstler wie den androgynen David Bowie, dessen modischer und musikalischer Stil bis heute prägend ist.

Selbst eine Bar konnte hier Kunst sein, das zeigte Mark Ernestus, der an der Hochschule der Künste studierte, das ehemalige Bordell „Club Maitresse“ 1987 zum Readymade-Lokal erklärte und „Kumpelnest 3000“ taufte. Bis heute ist das „Kumpelnest 3000“ ein Ort, an dem sich die stilistische Freiheit Berlins eindrücklich zeigt: Heute wie damals treffen sich hier Angehörige unterschiedlichster Schichten mit unterschiedlichen Vorstellungen von gutem Stil. Die tiefschwarz gekleidete Avantgardistin sitzt hier neben dem ökologisch Bewegten in Funktionskleidung, der Punker mit Lederjacke, Nietengürtel und betont verschlissener Kleidung – der bis heute gültigen Uniform des Widerstands gegen die Spießbürgerlichkeit – neben dem gewöhnlichen Anzugträger und Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, die ihre körperlichen Vorzüge in den Vordergrund rücken. Der Stil dieses Westberlins ist frei, weil es Räume gibt, in denen Kleiderkonventionen und Gesinnungen zweitrangig sind und ein friedliches Miteinander Konsens ist.

An anderer Stelle übrigens ist Berlin ebenfalls stilprägend, allerdings deutlich abgründiger: Durch das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ und die vom „Stern“ veröffentlichte Titelgeschichte über die jugendliche Drogensüchtige Christiane F. entsteht der „Heroin Chic“, der später in den 90ern dem britischen Model Kate Moss und dem amerikanischen Label Calvin Klein zugeschrieben wird.

© Foto: Reto Schmid

Ab dem Moment der Wiedervereinigung vervielfacht sich der Freiraum, den Berlin bietet. Denn insbesondere der Ostteil der Stadt ist ein Abenteuerspielplatz, ein unbesetzter Möglichkeitsraum, der bis heute nachwirkt und Berlin für Designerinnen wie Christa Bösch und Cosima Gadient mit ihrem Label Ottolinger so attraktiv macht. Niedrige Mieten, leerstehende Gebäude, die nach Umnutzung verlangen, eine Vielfalt an Clubs und Wochentagbars, neue Galerien, noch mehr internationale Hochschulen und Studiengänge ziehen junge Menschen aus aller Welt an.

Diversität wird immer mehr zum Normalfall. Und für alle ist Platz: Die knapp bekleideten Raver auf dem Kurfürstendamm und später an der Siegessäule, deren Kleidung ebenso synthetisch wie grellbunt ist und die die Kluft der Bauarbeiter zur Mode erklären, lange bevor der Georgier Demna Gvasalia mit seinem Label Vetements das T-Shirt der DHL-Boten als Luxus-Designermode adelt. Für die Geschmackssicheren, die ab 1993 von der britischen Dame Vivienne Westwood an der Universität der Künste das Handwerk des Modedesigners lernen und von der internationalen Strahlkraft der freigeistigen Designerin profitieren. Für die arabischstämmigen jungen Frauen und Männer, die im Wedding und in Neukölln modisches Neuland erobern, mit oder ohne Kopftuch, in nagelneuen Turnschuhen und mit einer eigenen Schminkkultur, die die Traditionen ihrer Eltern mit eigenen Ideen kombiniert. Für die „Gallerinas“, die chic in Schwarz gekleideten Galeristinnen, aus den neuen Galerien in Berlin Mitte, die jungen Werberinnen und Werber in Anzügen und Turnschuhen und auch all jene, die an diesen unterschiedlichen Stilblüten gar kein Interesse haben.

© Foto: Stefan Reinberger

Das ist das vielleicht wichtigste Fundament der stilistischen Freiheit in Berlin: Das Verständnis, dass Geschmäcker verschieden sind und die Fähigkeit, sich vom Geschmack der anderen zwar inspirieren, aber nicht irritieren zu lassen. Bei all dem stilistischen Durcheinander und Nebeneinander bleibt die Frage, für welchen Stil Berlin denn nun eigentlich steht.

Heute setzen hier ganz unterschiedliche Designerinnen und Designer Akzente. Julia Leifert beispielsweise konzentriert sich auf schlichte Eleganz aus ökologisch und sozial nachhaltiger Produktion, die Österreicherin Marina Hoermanseder kleidet mit ihren extravaganten Looks internationale Stars wie Lady Gaga und Kylie Jenner, Wibke Deertz bietet mit ihrem Label A.D.Deertz zeitlos lässige Männermode aus fairer Produktion, Hien Le zarte und zeitlose Silhouetten für Männer und Frauen. Und auch die Designerinnen Christa Bösch und Cosima Gadient von Ottolinger prägen den Stil in Berlin mit Mode, die für ganz unterschiedliche Körper gemacht ist. Ihre Kleider beispielsweise sind so geschnitten, dass sie an schmalen wie üppigeren Figuren gut aussehen.

© Foto: Benjamin Rennicke

Aber Moment, genau das bezeichnete man vor knapp 180 Jahren doch auch als „Berliner Chic“ (siehe Artikel “Kurze Geschichte der Berliner Modebranche“). 1830 entstand nämlich die Idee, eine Mantille – einen mantelähnlichen Umhang – nicht wie üblich für eine bestimmte Kundin und deren Maße anzufertigen, sondern sie so zu schneidern, dass sie einer ganzen Reihe von Kundinnen mit ähnlichen Maßen passte. Damit wurde die Konfektionskleidung begründet, wie wir sie heute kennen, und der „Berliner Chic“, der für eine Vielfalt von Menschen tragbar war.

Das Konzept stieß auf so großen Anklang, dass Herman Gerson, der im ersten Kaufhaus Berlins Konfektionsware anbot, zum Hofschneider vieler Adeliger in ganz Europa wurde. Bald entwickelte sich am Hausvogteiplatz das sogenannte Konfektionsviertel, in dem sich Hunderte Bekleidungsfirmen ansiedelten. Hier, und nicht etwa in Paris, wurde auch die Tradition der kleinen Modesalons gegründet, auf denen Verkäuferinnen einem kleinen Kundinnenkreis die neuste Mode vorführten, eine Art intime Modenschau also. Als „Berliner Chic“ galt bald, was die Bühnenstars der Stadt gern trugen und auch hier war die Vielfalt Programm: Schlicht-elegante, figurbetonte lange Abendkleider genauso wie kecke Charleston-Kleider für durchtanzte Nächte.

©Foto: Fanette Guilloud

Der Zweite Weltkrieg zerstörte den Aufschwung der deutschen Textilwirtschaft jäh, auch und besonders weil die Hälfte aller Betriebe jüdisch (siehe Artikel “Kurze Geschichte der Berliner Modebranche“) war. Durch diese Zäsur wurde die Berliner Mode international bedeutungslos, Trends und Geschäfte wurden von nun an in Paris, Mailand, London und New York gemacht. Das kann man mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen: Zwar richtet sich in der Mode niemand nach Berlin, aber dadurch genießt Berlin Narrenfreiheit. Im Nachkriegsdeutschland nutzte sie unter anderem der Potsdamer Designer Uli Richter. Sein „Berliner Chic“ war Mode mit einem ungeheuren Freiheitsversprechen: Er kombinierte Materialien wie Lack und Pelz, die traditionell nicht zusammengehörten, er schneiderte frische, moderne Kleider, die nicht beengten, sondern maximale Bewegungsfreiheit verliehen.

Was die Schweizer Designerinnen Christa Bösch und Cosima Gadient über ihre Entwürfe sagen, das würde wohl auch Uli Richter unterschreiben, den man bis heute den deutschen Balenciaga nennt: „Es geht darum, dass die Formen mit dem Körper mitgehen. Dass es Linien sind, die dem Körper schmeicheln.”

©Foto: Kerstin Jacobsen

In Berlin lebt man in einer Stadt, in der es eine große Freiheitstradition gibt und in der Vielfalt die Norm ist. Manche Designer, wie beispielsweise William Fan, würdigen das ganz explizit. Für den Sommer zeigte der Sohn chinesischer Einwanderer eine Kollektion, die die Freiheit Berlins gleich mehrfach feiert: Zum einen zeigte er seine schulterfreien Tops, in der Taille gebundenen Kleider mit Vichymuster und lässigen Anzughosen unabhängig von Geschlechterkonventionen an Männern und Frauen. Zum anderen wählte er für seine Schau einen Ort, an dem die Vorzüge von Berlin auf 360 Grad sichtbar sind, nämlich den Berliner Fernsehturm.

Aber es braucht nicht immer die große Geste. Jede/-r kann jeden Tag mit kleinen Gesten die stilistische Freiheit Berlins verteidigen. Indem man selbst die Mode als Möglichkeitsraum nutzt, Konsumentscheidungen bewusst trifft und Vielfalt nicht argwöhnisch beäugt, sondern feiert. ■


Autorin Alex Bohn leitet das Stil-Ressort des Frankfurter Allgemeine Quarterly Magazins, das sich mit Themen der nahen Zukunft beschäftigt.

Als langjährige Autorin schreibt sie außerdem für das ZEIT Magazin Online über Mode, Schönheit und Gesellschaft und überlegt auf ihrem Instagram-Account „The_Lessentials“, was wir wirklich brauchen.