Dr. Anton Hofreiter war als Diplom-Biologe von Oktober 2013 bis 2021 Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Seit Januar 2022 ist er Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Dass er sich jemals in das Thema Krieg und Kriegsgerät würde einarbeiten müssen, stand nicht auf seinem Plan. Wir sprachen mit ihm im Paul-Löbe-Haus, dem sogenannten Maschinenhaus der Demokratie, dessen acht Treppenhäuser fast schon skulpturale Wirkung entfalten.

Mein/4: 1999, 2022: Wenn die Grünen in der Bundesregierung die Verantwortung haben, gibt es Krieg in Europa – so scheint es. Ist das Pech? Warum trifft es immer die Grünen, solche Entscheidungen zu treffen?

Anton Hofreiter: Das hat mit den Grünen überhaupt nichts zu tun. Außerdem sind zwei Fälle noch keine Serie. Aber es sind natürlich extrem herausfordernde Zeiten, und man muss sich gut überlegen: Was sind die richtigen Entscheidungen? Das Bittere bei Kriegen ist, dass man auf der einen Seite sehr wohlüberlegt vorgehen muss und auf der anderen Seite natürlich nicht ewig Zeit hat. Denn der Krieg findet jeden Tag statt. Täglich sterben Menschen. Deswegen muss man neben dem guten Überlegen vor allem sehr tatkräftig handeln.

Mein/4: Ich erlebe die Grünen als sehr klar in den Aussagen. Es kommt anscheinend beim Wähler an, dass sich jemand Mühe gibt, arbeitet und einen Plan hat. Ist das ein bestimmter Kommunikationsstil?

Anton Hofreiter: Nein. Ich glaube, es ist einfach wichtig, dass wir den Leuten in so einer schwierigen Situation ehrlich sagen, was jetzt passiert. Und dazu gehört eben auch, ehrlicherweise zu sagen: „Ja, es ist Krieg. Wir haben einen Angriffskrieg, und wir müssen die Ukraine unterstützen.“ Und wenn man die Ukraine unterstützt, dann geht es nicht nur um Worte, sondern um Taten. Das bedeutet auch – so schlimm und unangenehm es ist, aber wir haben es uns nicht ausgesucht – zu sagen: „Russland hat die Ukraine überfallen, deswegen liefern wir Waffen, auch schwere Waffen.“ Die meisten Menschen verstehen es am Ende.

Für mich ist entscheidend, dass wir so klar sprechen. Dass wir auch die Dilemmata und die Probleme ansprechen, wie zum Beispiel mit Katar. Natürlich ist es nicht schön, dass wir jetzt Flüssiggas in Katar beziehen müssen. Aber wir können heute selbst mit den Grünen an der Regierung nicht von heute auf morgen das gesamte russische Erdgas durch erneuerbare Energien ersetzen. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig. Es ist ein Übel, das Erdgas in Katar zu kaufen, aber es ist das vergleichsweise kleinere Übel, als es weiter in gigantischen Mengen in Russland zu kaufen. Ich glaube, dass die Leute das nachvollziehen können, wenn man ihnen das ehrlich sagt.

"Und der Krieg findet statt, jeden Tag sterben Menschen."

Mein/4: Sie sind Biologe. Da gehört so etwas wie Krieg nicht gerade in Ihr Kernfeld. Sie haben sich ja unheimlich schnell umgestellt und sich eingelesen. Ich stelle mir das sehr schwer vor, thematisch auf etwas umzusatteln, was mir zutiefst widerstrebt. Wie gehen Sie mit dieser Notwendigkeit um?

Anton Hofreiter: Es ist ein sehr unangenehmes Thema, und ich hätte mir auch gewünscht, mich nie mit Waffen beschäftigen zu müssen. Aber es hilft ja nichts. Es wird nicht besser dadurch, dass man sich nicht damit beschäftigt. Und der Krieg findet statt, jeden Tag sterben Menschen. Ich glaube, bevor man sich da äußert, ist es eben besser, wenn man sich intensiv damit beschäftigt und weiß, worüber man redet. Wie gesagt, ich wollte nie wissen, wie schwere Scharfschützengewehre mit 12,7-Millimeter-NATO-Munition strategisch am geschicktesten eingesetzt werden. Sicherlich muss man nicht jedes Detail wissen, um ernsthaft mitreden zu können. Ich persönlich habe eine gewisse Detailversessenheit bei allem. Aber man sollte schon im Groben und Ganzen wissen, wovon man redet.

Mein/4: Die Grünen sind angetreten, um sich dem Hauptproblem der Welt zu stellen, dem Klimawandel. Wir waren schon einmal auf einem guten Weg, viele alternative Energien auszubauen. Dann wurde das immer weiterverwässert. Kann man sagen, dass dieser Krieg, so furchtbar er ist, auch Sachen beschleunigen kann in der Energiewende? Haben Sie das Gefühl, es herrscht mehr Verständnis darüber, dass Deutschland unabhängig sein oder wesentlich unabhängiger sein muss von externen Energielieferanten?

Anton Hofreiter: Ich glaube, ein Effekt dieses brutalen Angriffskrieges ist, dass mehr Leute verstehen, dass wir den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen müssen. Viele, denen die Klimakrise als Argument nicht gereicht hat, sagen jetzt: „Es ist wichtig, dass wir jetzt unabhängig von Russland werden und vielleicht am Ende nicht ausgerechnet von Katar abhängig werden.“ Ich glaube, das ist ein Argument, das viele überzeugt. Und ich hoffe sehr, dass wir jetzt viel, viel schneller werden beim Ausbau, nachdem es die letzten zehn Jahre sehr schleppend ging. Denn noch immer schicken wir jeden Tag Hunderte von Millionen nach Russland. Das sollte man so schnell wie möglich ändern.

Mein/4: Sie sind ja ein Vertreter des sofortigen Embargos. Sie verstehen aber auch die Leute, die zweifeln. Überzeugt Sie die eine Seite oder bleiben Sie bei Ihrem Stand?

Anton Hofreiter: Ich bin der Meinung, dass man – natürlich überhaupt nicht einfach und mit nicht zu unterschätzenden Risiken – ein sofortiges Energieembargo umsetzen könnte. Aber es wäre schon mal ein großer Schritt, wenn wir jetzt ein Erdölembargo umsetzen. Mario Draghi, der italienische Premier, hat die sehr kluge Idee gehabt, einen Höchstpreis anzusetzen, gerade wenn man nicht in der Lage ist, das Energieembargo sofort umzusetzen. Dass man sagt: „Russland, wir kaufen dein Erdgas, das wir nicht ersetzen können, noch weiter, aber wir bezahlen nicht beliebig viel dafür.“ Dadurch, dass die Energiepreise so gestiegen sind, profitiert Russland auch noch finanziell von seinem Krieg. Deshalb kam der Vorschlag, die Preise zu begrenzen, die wir an Russland zahlen.

"Zum Verhandeln gehören zwei."

Mein/4: Was ist Ihre Einschätzung: Wie wird sich Deutschland in den nächsten sechs Monaten entwickeln?

Anton Hofreiter: Viele rechnen damit, dass der Krieg noch viele Monate, sogar vielleicht Jahre dauern wird. Dass Putin ein Interesse an einer Zermürbungsstrategie hat, weil er damit rechnet, dass seine Diktatur mit den kontrollierten Medien, mit den vielen Toten und dem Elend besser klarkommt als die westlichen Demokratien. Ich glaube, es ist überhaupt nicht prognostizierbar. Es ist auch schwer abzusehen, was im Detail passiert, denn auch die Klimakrise führt ja immer wieder zu schrecklichen Ereignissen. Denken Sie daran, was gerade in Indien und Pakistan passiert und normalerweise eine riesige Nachricht gewesen wäre: Unfassbar viele Menschen sterben in der Hitze, weil es über 50 Grad heiß ist.

Mein/4: Das meinte ich eben: Corona hat den Klimawandel als Thema verdrängt. Jetzt kommt das nächste Thema, und die Zeit läuft weg.

Anton Hofreiter: Die Zeit drängt extrem. Aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass angesichts all dessen, was passiert, zumindest im Moment in Europa eher das Verständnis wächst, dass wir wegkommen müssen von den fossilen Energien. Vor Kurzem saß an diesem Tisch eine Vertreterin der polnischen Fridays-for-Future-Bewegung. Sie sagte, dass selbst die konservative Regierung plötzlich verstehe, dass wir wegkommen müssen von der Abhängigkeit von fossilen Energien. Am Ende ist es immer eine Mischung aus dem Ausstieg aus den fossilen Energien und der Ausweitung der Unabhängigkeit.

Mein/4: Was meinen Sie, wann hat man Putin so weit oder wann ist die Situation im Krieg so, dass man wieder verhandeln kann? Oder wird das nur in der Niederlage funktionieren?

Anton Hofreiter: Das entscheidet Putin. Was wir tun können ist die Ukraine humanitär, politisch, wirtschaftlich und militärisch so zu unterstützen, dass sie ihre Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten kann. Wann der Zeitpunkt gekommen ist, dass für das Regime Putin die Kosten zu hoch sind, das entscheidet das Regime. Wir können nur alles dafür tun, immer in Richtung Verhandlungen zu drängen und gleichzeitig die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine hochzuhalten.

Mein/4: Was entgegnen Sie den Leuten, die jetzt auf die Straße gehen und sagen, es müsse eine reine verhandlungstaktische Lösung geben?

Anton Hofreiter: Zum Verhandeln gehören zwei. Wenn der Angreifer nicht verhandeln will, dann hilft es nichts, dem Opfer zu sagen: „Verhandle doch!“ Sondern da kommt es darauf an, das Opfer zu unterstützen, zu stärken und ihm zu helfen.

Mein/4: Gibt es noch andere Maßnahmen? Was kann die Europäische Gemeinschaft oder die Weltgemeinschaft noch tun?

Anton Hofreiter: Man kann am Ende das russische Finanzsystem komplett von SWIFT abkoppeln. Das ist eine weitere Möglichkeit, die Sanktionen noch einmal zu verschärfen. Das betrifft dann nicht nur Energie, sondern alle Exporte aus und Importe nach Russland.

Mein/4: Ich bin sehr angetan von dem Engagement in Deutschland, was alles auf privater Ebene stattgefunden hat. Sie sind ja viel unterwegs und unterhalten sich mit vielen Menschen. Wie erleben Sie das?

Anton Hofreiter: Die Solidarität ist extrem groß. Sie ist auch extrem groß in Ländern, die sich vorher mit Geflüchteten sehr schwertaten, wie zum Beispiel Polen. Das ist etwas, wo man ansetzen muss und auch deutlich machen muss: Diese Solidarität gilt gegenüber allen Geflüchteten. Manche sagen: „Es ist ein Zeichen, dass sehr stark unterschieden wird zwischen Geflüchteten von hier, Geflüchteten von dort.“ Aber ich finde, man muss an dem Positiven ansetzen und sagen: „Schaut mal, hier kriegen wir es so gut hin. Lasst uns doch Geflüchtete aus anderen Regionen auch so anständig behandeln.“ Das ist doch am Ende für alle besser.

Mein/4: Vielen Dank für das Gespräch.