Krisen sind immer der ideale Nährboden für Verschwörungsmythen. So überrascht es nicht, dass sie einem in Zeiten der Corona-Pandemie an allen Ecken begegnen. In Berlin wurde 2016 die Plattform „Der goldene Aluhut“ gegründet – eine Organisation, die sich Aufklärungsarbeit auf die Fahnen geschrieben hat. Wir trafen die Macher der Seite, Giulia Silberberger und Rüdiger Reinhardt.


Mein/4:
Seit 2016 betreibt ihr die Seite „Der goldene Aluhut“. Wie kam es dazu?

Giulia: Meine Mutter und ich waren bis 2007 bei den Zeugen Jehovas. Wir haben dann zeitgleich die Sekte verlassen. Eine Zeit lang liefen unsere Lebenswege parallel, bevor sie sich trennten. Ich ging in den Skeptizismus und habe mich dem wissenschaftlichen Denken verschrieben. Meine Mutter ist in die Verschwörungstheorien gegangen.

Mein/4: Wie kam es bei deiner Mutter dazu?

Giulia: Zur Vorgeschichte: Meine Mutter war in den neunziger Jahren Brustkrebspatientin. Nach einer radikalen Strahlentherapie kam der Krebs als Knochenkrebs zurück. Sie klagte über ein Summen im Ohr, geriet an die falsche Ärztin, die die Ursache in Chemtrails vermutete. Von da an war der Weg vorgezeichnet. Eines Tages rief sie mich an und sagte: „Pass auf, ich schick dir jetzt eine E-Mail. Du musst diese Internetadresse eingeben. Ich kann jetzt nicht sprechen, wir werden abgehört.“ – und knallte den Hörer auf.

Ich bekam dann besagte E-Mail mit dem Link zu einer Website mit dem Titel „Psychophysischer Terror“, ein Verein aus Österreich, der sich gegen Mikrowellen und Strahlenfolter engagiert. Für sie war diese Website der Beweis, dass ihr Summen im Ohr daraus resultiert, dass wir mit Mikrowellen und Strahlen gefoltert werden. Später ging es dann auch in die Reichsbürgerszene und immer strammer nach rechts. Ein Tatbestand, der so abstrus ist, wurde sie doch selbst als Kind jüdischer Eltern in einem KZ geboren.

Mein/4: Der Weg deiner Mutter führte nach rechts, obwohl ihre Familie selbst unter rechten Ideologien leiden musste?

Giulia: Wer an Verschwörungstheorien glaubt, blendet nicht passende Fakten aus und ignoriert sie. Bei meiner Mutter gipfelte das in dem Glauben an eine jüdische Weltverschwörung. Kurz vor ihrem Tod sprach sie mit mir und sagte, ich solle in der Presse nicht lügen, wir seien keine Juden. Ihre eigene Geschichte, die sie so mühsam über lange Zeit recherchiert hat, die ihr mein Großvater auf dem Sterbebett bestätigt hat, wurde komplett geleugnet.

Rüdiger: Das ist diese kognitive Dissonanz, die wir immer bei Verschwörungstheoretikern beobachten können. Sie setzen Scheuklappen auf und blenden alles aus, was nicht in die Theorie passt. Sie suchen sich das raus, was sich bestätigt, der Rest existiert nicht und wird auch nicht erwähnt. Wenn man sie in Diskussionen darauf anspricht, wird meistens die Aufmerksamkeit auf andere Themen gelenkt bzw. werden andere Fragen aufgeworfen. Sie flüchten dann vor diesen Themen, das macht eine Diskussion schwierig.

Mein/4: Ihr betreibt die Seite „Der goldene Aluhut“, auf Facebook folgen euch mehr als 140.000 Menschen, ihr vergebt jedes Jahr die Trophäe „Der goldene Aluhut“ in verschiedenen Kategorien …

Giulia: Es ist langsam schwierig, da den Überblick zu behalten. Deshalb sortieren wir in verschiedene Kategorien. Das reicht von Verschwörungstheorien allgemein über Verschwörungstheorien-Politik, -Medien und -Blogs, bis hin zu Medizin und Wissenschaft. Das Feld ist groß …

Mein/4: In Corona-Zeiten läuft das Netz über von Verschwörungstheorien …

Rüdiger: Wir hatten noch nie so viel zu tun wie jetzt. Wir erhalten unheimlich viele Anfragen von Firmen, Schulen, öffentlichen Einrichtungen, aber auch von Parteien. Fast in jeder Einrichtung wird man konfrontiert mit teilweise gewagten Thesen. Die Menschen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Wir beraten ja auch viel, stellen kostenlos Infobroschüren zur Verfügung usw. Gerade im Februar haben wir 2.500 Stück gedruckt und können bald wieder nachdrucken. Das macht uns stolz.

Mein/4: Wie finanziert ihr euch?

Giulia: Nur durch Spenden, Ticketverkäufe zur „Goldenen Aluhut-Gala“ und natürlich durch unseren Shop auf der Website.

Mein/4: Wenn man sich eure Beiträge auf euren Social-Media-Kanälen anschaut, dann ist nicht das Ziel, sich über die Verschwörungstheorien lustig zu machen?

Rüdiger: Nein, wir stellen niemanden bloß, wir machen auch Namen unkenntlich – ein bisschen Ironie und Augenzwinkern sind aber dabei. Auch unsere Awards vergeben wir nicht an Personen, die nur einmal etwas gesagt haben. Da muss schon eine gewisse Relevanz gegeben sein. Auch Menschen mit eindeutig psychischen Problemen schließen wir für uns aus. Das gehört nicht in die Öffentlichkeit, den Menschen muss geholfen werden. Das ist ja auch ein Ziel unserer Arbeit, nicht nur aufzuklären, sondern auch zu helfen. Solche Fälle haben wir oft: Menschen, die zu uns kommen, weil Familienmitglieder an Verschwörungstheorien glauben. Die Menschen sind oft hilflos, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Mein/4: Habt ihr Beispiele?

Giulia: Dieses Jahr haben wir zum Beispiel ein Problem mit Xavier Naidoo und auch Attila Hildmann. Eigentlich können wir ihre Nominierung nicht annehmen, wenn wir unserer eigenen auferlegten Charta folgen, denn sie sind Personen des öffentlichen Lebens. Aber es tut mir leid: Selbst wenn sie keine seelische Vorerkrankung hatten, dann haben sie sich spätestens durch diese Verschwörungstheorien eine zugezogen. Das ist ja gerade eine der großen Gefahren bei diesem apokalyptischen Verschwörungsglauben, dass man sich damit eine Angststörung anerzieht.

Das ist mir zum Beispiel auch bei den Zeugen Jehovas passiert. Wenn man permanent mit dem Weltuntergang im Nacken lebt, kann man kein freier, glücklicher Mensch sein. Das ist nicht möglich, es zerstört dich. Kinder traumatisiert es. Und es zerstört jedes Kind, das in so einer Struktur aufwächst. Da ist es egal, ob die Zeugen Jehovas die Reichsbürger oder Impfgegner sind. Das macht Menschen kaputt.

Rüdiger: Es ist ideologischer Missbrauch – das muss in der Gesellschaft wahrgenommen werden und ankommen.

Giulia: Es betrifft im Moment einfach viele Menschen, von denen man es nicht erwartet hätte. Nehmen wir Attila Hildmann: Er war in seinen Thesen schon immer etwas radikaler und hart an der Grenze zu Fake News. Was mich zutiefst schockiert, sind seine Gewaltfantasien. Dass er öffentlich auf seinen Kanälen äußert, er sei bereit, mit der Waffe in der Hand zu sterben und diesen Kampf zu führen, bis zum blutigen Ende. Das sind genau diese Menschen, von denen sich andere inspiriert fühlen, zur Waffe zu greifen. Da muss er selbst gar nichts machen, da reicht es, wenn ein Trottel aus Halle oder Hanau zur Waffe greift. Das ist das, wovor ich in dieser Gesellschaft Angst habe aktuell.

Mein/4: Früher hatte jedes Dorf seinen „Verrückten“. Jeder wusste, der oder die ist etwas sonderbar. Im Zeitalter des Internets steigt die Reichweite dieser Menschen immens.

Rüdiger: Das ist in der Geschichte schon immer so gewesen – egal ob Buchdruck, Zeitungen, Radio, Fernsehen. Je mehr Sender und Empfänger miteinander kommunizieren und sich in den sozialen Netzwerken dann auch noch Gruppen bzw. Filterblasen bilden, desto mehr bekommen diese Menschen eine Bühne, bestätigen sich selbst, und erhalten Bestätigung. Und dann ist dieser eine Verrückte nicht mehr allein. Zusätzlich stecken diese Menschen auch weitere mit ihren ideologischen Geschichten an.

Die Herkunftswege, wie man da reinrutscht, können vielfältig sein. Im Falle von Giulias Mutter über die Krankheit, über Geldsorgen und so weiter. Irgendetwas holt den Menschen ab, dann kommt noch mehr in den Gruppen links und rechts dazu, und irgendwann ist man ganz tief drin. Und sieht den Rest nicht mehr.

Mein/4: Was für Menschen sind anfällig für Verschwörungstheorien?

Giulia: Menschen, die Ängste haben, Sorgen, Nöte, die verunsichert sind, gerade jetzt zu Corona-Zeiten. Wir sind alle in finanzieller Schieflage, das ist existenzbedrohend. Dazu kommt, dass der Virus selbst ja schon existenzbedrohend sein kann. Aus dieser Kopflosigkeit, mit der viele Leute daran gehen, mit ihrer Verunsicherung, erwächst der Wunsch an etwas zu glauben, was ihnen Antworten gibt. Auf die Fragen, die sie sich stellen – diese Antworten müssen nicht wahr sein, aber sie müssen etwas in ihnen befriedigen. Das, was die Wissenschaft aktuell nicht geben kann.

Wir sind ja erst am Anfang, diesen Virus zu verstehen. Am Anfang der Forschung. Das dauert eine Zeit, wir leben ja nicht bei CSI Worldwide, wo ein Labor in 45 Minuten einen Impfstoff findet. Dieses Loch füllen Verschwörungstheoretiker aus. Das Fiese ist auch, dass die Verschwörungstheorien, auf die sie sich beziehen, teilweise schon seit hunderten Jahren existent sind. Sie legitimieren sich aus der langen Existenz. Die Weltuntergangspropheten haben jetzt ausnahmsweise mal ein bisschen Recht.

Nun ist unser Land nicht so fragil, wie die Verschwörungstheoretiker gerne glauben, und ich bin optimistisch, dass wir diese Krise meistern werden. Es gibt ein schönes Zitat: „Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.“ Das ist genau das, was jetzt passiert.

Mein/4: Was erwartet ihr für die nächste Zeit?

Giulia: Ich befürchte, dass sich viele Menschen, die jetzt zu den Hygienedemonstrationen überall auf die Straße gehen, weiter radikalisieren.

Fakt ist, dass sich viele Menschen im Moment berufen fühlen, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Wir leben in einer Zeit, wo man die Gewalt schon spüren kann, es knistert in Teilen der Gesellschaft. Ich vermute, es wird sich irgendwann entladen. Wir werden Situationen, wie die Situation mit dem ZDF-Kamerateam oder Gewalt gegen Polizisten, noch öfter erleben. Wir warnen schon seit Jahren davor, dass es nur eine Situation geben muss, an der sich alles entlädt.

Rüdiger: … eine neue Form des Terrorismus. Nicht so, wie man es herkömmlich kennt: eine Zelle ohne Befehlsstruktur, sondern einfach durch Radikalisierung, die dann durch den Populismus und auch durch die AfD befeuert wird. Narrative werden bedient, es wird indoktriniert … und irgendwann, ganz platt gesagt, kommt ein Affe mit der Waffe (z. B. Hanau). Das ist dann kein Amoklauf, das ist Terrorismus, weil es aus dieser politischen Ideologie, aus dieser Motivation entsteht, gegen das System aufzubegehren.

Giulia: Sie wollen ja auch Terror verbreiten. Sie sagen ja selbst, sie werden uns jagen, sie werden schon zeigen, was sie können, wir werden uns noch umsehen. Das heißt klar: Wir gegen die. Das ist auf Spaltung gemünzt. Das geht gegen jeden, der sich für diesen Staat einsetzt, in der politischen Bildung, der über Verschwörungstheorien berichtet oder mit Leuten ein Interview führt. Diese Person ist Teil des Systems, und das System gilt es zu bekämpfen.

Mein/4: Was macht euch Hoffnung?

Giulia: Ich glaube daran, dass sich Menschen ändern können. Ich war auch einmal ein radikaler Mensch. Ich war eine Idiotin und habe mich radikalisieren lassen, in meiner Sektenzeit. Das nährt in mir die Hoffnung, dass jeder Mensch den Ausstieg schaffen kann. Ich wünsche mir nur, dass die Leute, die den Ausstieg schaffen, noch die Kraft haben, öffentlich einzugestehen, dass sie einen Fehler gemacht haben. Nur damit kannst du dir Respekt verdienen. Nur ganz wenige können sagen: „Ich habe mich geirrt.“ Dabei ist nichts Schlimmes daran zuzugeben, dass man sich geirrt hat.

Mein/4: Danke für das Gespräch!

 

Info:


www.dergoldenealuhut.de
fb.com/DerGoldeneAluhut
• Twitter@GoldenerAluhut
Spenden: www.steadyhq.com/de/aluhut

Wie reagiert man auf Verschwörungstheorien?

Grundsätzlich gibt es ein paar Dinge, die man beachten sollte, wenn man sich mit Verschwörungsgläubigen unterhält: Als erstes gilt es, Besonnenheit zu bewahren. Es bringt nichts, sich  aufzuregen oder gar ausfallend zu werden. Auch ist es wenig hilfreich, sein Gegenüber einfach mit Fakten und Belegen zuzuschütten. Dies führt unter Umständen eher zu einem „Backfire-Effekt“, und man bestätigt den Verschwörungsgläubigen noch mehr in seinem Weltbild. Eher hilft es zu hinterfragen, warum er oder sie daran glaubt und nach den Gründen zu suchen.

Momentan macht die Corona-Krise zum Beispiel primär Angst. Wenn ein augenscheinlicher Experte behauptet, es sei alles nicht so schlimm, ist das natürlich beruhigend. Man kann dann mit seinem Gegenüber zusammen Quellen recherchieren und zur Selbstreflexion anregen.

Im Idealfall kommt der oder die betreffende Person selbst zur Erkenntnis. Wenn durch eine solche Situation das Familienleben vergiftet wird, sollte man sich nicht scheuen, professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen. Anlaufstellen sind neben Giulia und Rüdiger auch Sektenberatungsstellen und Weltanschauungsbeauftragte der Bundesländer.

 

Alle Fotos: © Pavol Putnoki

Interview veröffentlicht in mein/4-Ausgabe 2/2020