Kolumne Wladimir Kaminer

Antikörperproduktion – oder mein Weg zum Impfen

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Mein Freund rief bei seinem Hausarzt an und zack, hatte er den Impftermin bekommen. Vielleicht sollte ich auch beim Hausarzt anrufen? Das Problem war, ich hatte keinen. Der einzige Hausarzt, den ich kannte, war die Praxis, in der ich seit dreißig Jahren die Rezepte für meine Mutter abholte. Eine typische ostdeutsche Praxis, mit Schwester Susanne und Schwester Christine und einer halbtoten Yucca-Palme in der Ecke, die noch die Wiedervereinigung erlebt hat, ohne den Topf gewechselt zu bekommen. 

Ich hatte in dieser Praxis immer ein nettes Gespräch. „Na?“, fragte mich Schwester Susanne, „wie geht es Mama?“. „Mama geht es gut, danke“, berichtete ich, bekam Mamas Rezepte und verschwand. In Gedanken habe ich diese Praxis nie mit dem Gesundheitswesen in Verbindung gebracht. Ich rief dort an. Schwester Susanne nahm den Hörer ab. „Ja, Herr Kaminer, wir haben Pfizer bekommen“, flüsterte sie, „und BioNTech haben wir auch. Die Praxis macht zu, wir sind ab sofort nur für Impfungen zuständig. Ich rufe Sie in den nächsten Tagen an.“ Drei Tage später bekam ich den ersehnten Anruf, Schwester Christina war am Apparat. Sie flüsterte auch. „Kommen Sie am Mittwoch um 9 Uhr früh, und bringen Sie bitte niemanden mit. Die Tür der Praxis wird zu sein, bitte klingeln Sie nicht. Um 9 Uhr komme ich raus und hole Sie rein. Legen Sie bitte nicht auf! Sie müssen sich vorbereiten. Gehen Sie auf die Seite des Robert KochInstituts, schaffen Sie das? Dort finden Sie alle Unterlagen, die Sie ausgedruckt, ausgefüllt und unterschrieben mitbringen müssen. Legen Sie bitte nicht auf! Das Aufklärungsblatt, die Anamnese und den Einwilligungsbogen, vergessen Sie bloß nicht, es sind drei Formulare, nicht zwei und nicht vier. Und bringen Sie Ihren Impfausweis mit.“ Am verabredeten Tag stand ich fünf vor neun vor der verschlossenen Tür der Praxis, mit fünf weiteren, deutlich eingeschüchterten Personen: einem älteren Ehepaar, einem Jungen mit Walkman, der sich vor Aufregung ständig kratzte, einem molligen Mann mit Blumenstrauß und einer Frau auf Krücken. Die Stimmung war gravitätisch. 

Sechs Kandidaten für eine Dose. Es schien, als hätte sich ganz Deutschland aufgerappelt, um in die letzte entscheidende Schlacht gegen die Pandemie zu ziehen. Um 9 Uhr machte keiner auf. Unser kleines Deutschland fing an, sorgenvoll auf die Uhr zu schauen, laut zu gähnen und sich zu kratzen. Nach einer akademischen cum tempore ging die Tür einen Spalt auf. Schwester Susanne in einem nagelneuen hellgrünen Arztkittel schaute lustig zu uns heraus. „Sind alle da?“, fragte sie in die Runde. „Ja!“, muhte unser kleines Deutschland zurück. „Dann rein mit Euch!“ Die alte Praxis war nicht wiederzuerkennen. Der Boden frisch gewaschen, die Stühle im Warteraum in einer Reihe aufgestellt, beide Schwestern waren anscheinend negativ getestet beim Frisör gewesen, ihre Dauerwellen saßen perfekt. Sogar die invalide Yucca-Palme hatte sich hochgerappelt und lief grün an. Sie roch nach Tannenbaum. 

Die Frau auf Krücken hatte Angst, dass sie auf dem nassen Boden ausrutschte. „Wir schaffen das“, sagte ich und half ihr über die Stufe, sie lächelte verlegen. Die Ärztin betrat den Warteraum. Man merkte die bombastische Stimmung. Jahre, nein Jahrzehnte lang war in der Praxis nichts los gewesen, es waren die immer gleichen Patienten mit den immer gleichen Beschwerden gekommen, sie bekamen ihre Rezepte und gingen wieder. Das Unglück der Pandemie verwandelte die Praxis in eine Arche Noah, die von der Ärztin bestimmten Auserwählte durften an Bord und eine lebensrettende Zauberspritze bekommen, während die Welt draußen unterging: Halb Brasilien bekam keine Luft mehr, in Indien ging das Holz aus, das sie zur Verbrennung der Leichen benutzten. „Wir haben heute eine frische Dose BioNTech aufgemacht, gerade aus der Fabrik geliefert, wer will als Erster ran?“, fragte die Ärztin. Deutschland schwieg. Keiner traute sich, die Hand zu heben. „Ich! Ich will ran!“, gab ich ein Zeichen, bekam einen Piks in den linken Oberarm und fühlte mich gleich besser. „Herr Kaminer, haben Sie etwa Ihren Impfausweis vergessen?“, fragte mich Schwester Susanne. „Ja, habe ich vergessen“, log ich am Ausgang, „bringe ich beim nächsten Mal mit.“ Mir war es peinlich zuzugeben, dass ich nie einen Impfausweis besessen hatte. Während meiner dreißig Jahre in Deutschland habe ich nie ein solches Dokument gebraucht, wir hatten ja auch keine Pandemie. Am nächsten Tag konnte ich nur mit großer Mühe aufstehen, ich fühlte mich schwach und verloren, jede Bewegung erforderte eine ungeheure Anstrengung. Der Impfstoff fing an zu wirken, die große Veränderung setzte ein. Ich spürte, wie mein alter Körper mit jeder Sekunde neue Antikörper produzierte, um mich vor einer Krankheit zu schützen, die ich gar nicht hatte. Ich war auf alles vorbereitet, auf eine radikale Veränderung der Realitätswahrnehmung, auf Gliederschmerzen, auf Depressionen, sogar auf Stimmen in meinem Kopf, die Unverständliches auf Englisch flüsterten. 

Ich wollte sowieso schon längst meine Englischkenntnisse auffrischen, war aber im alltäglichen Trubel bisher nicht dazu gekommen. Doch nichts davon trat ein, einen Tag später fühlte ich mich wie vor der Impfung, als wäre nichts gewesen. Nur mein Handyempfang in der Wohnung hatte sich deutlich verbessert. 

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