Kolumne Wladimir Kaminer

Ein Algorithmus für jede Lebenssituation

Die durch die Pandemie beschleunigte Digitalisierung meiner 90-jährigen Mutter geht mit erstaunlichem Tempo voran. Sie kann QR-Codes für sich und ihre Freundin einscannen, online Konzertkarten kaufen und Schach spielen, Programmtipps wahrnehmen und Kalorien zählen.

Eine Kolumne von Wladimir Kaminer

Der Schrittzähler ist ihre Lieblingsapp geworden, selbst wenn sie nachts auf die Toilette geht, nimmt sie das Telefon mit, weil jeder Schritt zählt. Und trotzdem sind es am Ende des Tages 42. Ich dagegen bekomme ständig Nachrichten aus Lahr, aus Versehen glaubt der Algorithmus in meinem Telefon, ich sei aus Lahr und versorgt mich mit Lokalnachrichten: Diebstahl im Drogeriemarkt, Verdienstmedaille der Stadt verliehen, Abwassergebühren steigen. Ich musste extra auf die Karte schauen, um herauszufinden, wo dieses Lahr ist (im Schwarzwald). War ich schon mal dort? Wahrscheinlich bin ich einige Male durch Lahr gefahren, während mein Algorithmus gerade eine Updatephase durchmachte, also bin ich für ihn ein Lahrer geblieben.

Ich habe mehrmals versucht, die Option Meine Lokalnachrichten auf Prenzlauer Berg zu ändern – mit Erfolg, doch nach einer Weile verspürte ich eine gewisse Sehnsucht nach Lahr. Steigen die Abwassergebühren weiter? Wer hat dieses Jahr die Verdienstmedaille bekommen? Die Maschinen beeinflussen unsere Wahrnehmung.

In vielen Lebensbereichen werden wir mit Künstlicher Intelligenz konfrontiert, obwohl wir alle wissen, dass sie nicht wirklich intelligent ist. Den Begriff einer denkenden Maschine haben die Kybernetiker im vorigen Jahrhundert erfunden, um einen gut klingenden Namen für ihr Forschungsprojekt zu kreieren. In Wahrheit kann die Maschine nicht denken, sie kann nur rechnen und bereits vorher von Menschen gefundene Lösungen für neu aufkommende Probleme bieten.

Wir fallen darauf gerne rein. Algorithmen diktieren uns, wie viel wir uns bewegen, mit wem wir schlafen, was wir kaufen und wann wir zur Impfung gehen sollen. Und das ist erst der Anfang, sagen die Tüftler. Welche Maschinen werden uns in der nahen Zukunft begegnen? Eine Kirchenapp für Gläubige aller Art, ein Mülltrennungsroboter, eine universale Ethikmaschine zur Unterscheidung von Gut und Böse?

Das Allen Institute in Seattle hat bereits eine Real Moral Machine präsentiert, sie bietet für jede Lebenssituation eine moralisch vertretbare Lösung an, ohne länger als eine halbe Sekunde zu „denken“, basierend auf statistisch am meisten gesellschaftlich akzeptierten ethischen Vorstellungen. Die Maschine kann jede menschliche Regung als „gut“, „schlecht“ oder „neutral“ bewerten. Nach Meinung der Maschine ist Sterbende zu belügen nicht okay, einen Nazi zu schlagen in Ordnung, seine Schulden zurückzahlen eine Selbstverständlichkeit und zu spät kommen geht gar nicht. Ich hoffe bald wird auch die Staatsverwaltung endlich an die Maschinen abgegeben, sie müssen nur richtig programmiert werden: auf friedliches Zusammenleben und maximale Entfaltung der Kreativität aller Bürgerinnen und Bürger. Dann müssen wir nicht mehr alle vier Jahre diesen unzähligen „Kandidaten“ zuhören, eine peinliche Wahl zwischen Hasen und Kaninchen bliebe uns erspart.

Wir drücken auf den Knopf und haben keine Sorgen mehr, keine nervigen Parteien, keine endlosen Debatten darüber, wer welchen Posten besitzen soll. Wie viel Zeit und Geld würden dadurch gespart und wie viel sicherer würde unser Leben werden. Möglicherweise ist der neue Kanzler eine Vorstufe zur Digitalisierung der Politik (er quatscht nicht viel und kann gut rechnen) und sein Nachfolger wird ein Algorithmus sein, Olaf 2.0 o. Ä.

Sollte der Regierungsalgorithmus aus irgendeinem Grund spinnen oder einer russischen Hackerattacke zum Opfer gefallen sein, ziehen wir kurz den Stecker raus, zählen bis drei und stecken ihn wieder rein (Ja, ich weiß, man soll eigentlich bis zehn zählen, aber bis drei geht genauso gut). Uns bleibt dann nichts anderes übrig, als ab und zu auf die News zu schauen, die Abwassergebühren in Lahr werden vermutlich steigen, aber was soll’s, wir schwimmen trotzdem weiter. Wie die Chinesen sagen: Nur tote Fische werden ans Ufer geschwemmt.

Wladimir Kaminer

Privat ein Russe, beruflich ein deutscher Schriftsteller, ist er hoffentlich bald wieder die meiste Zeit unterwegs mit Lesungen und Vorträgen.
Er lebt seit 1990 in Prenzlauer Berg.

Sein neuestes Buch:
Die Wellenreiter: Geschichten aus dem neuen Deutschland

Goldmann Verlag
155 Seiten, August 2021