Wir leben zur Zeit in einer – wie kann ich das auf gut Deutsch sagen? – Crazy fucking Welt.

Haben wir nicht alle das Gefühl, dass wir unfreiwillige Statisten in einem Roland-Emmerich-Blockbuster sind? Independence Day vielleicht oder The Day After Tomorrow oder Moonfall? Eine knallende Hollywood-Halluzination voller Ballerei, Massenpanik und Apokalypse-Endzeit-Stimmung, wo Morgan Freeman immer der bodenständige, rettende US-Präsident ist? Heutzutage frage ich mich immer wieder: Wo ist Morgan Freeman when you really need him? Oder maybe this is The Matrix. In which case, wo – bitteschön – ist Keanu Reeves?

Oder vielleicht ist das alles doch ein LSD-Trip, den ich 1979 genommen habe – und ich bin immer noch drauf – und wir sind alle Teil eines Raum-Zeit-Kontinuum-Theorie-Experimentes.

Aber wir sind in Deutschland, es muss eine logische Aufklärung für unseren aktuellen kollektiven Zustand geben.

Es sind fast fünf Jahre vergangen seit meiner Einbürgerung als Deutsche, aber ich habe erst durch die Pandemie wirklich realisiert, dass ich deutsch geworden bin. Denn zum ersten Mal in meinen Leben hatte ich Angst. Richtig dicke German Angst! Wir nennen es so auf English – wir benutzen den Begriff GERMAN ANGST. German Angst ist hardcore! Es ist nicht nur fear. Es ist fear auf Anabolika. It’s the Champions League of psychische Störungen: It’s GERMAN ANGST!

Normalerweise schlafe ich wie ein Kind. Ich schlafe schnell ein, träume schöne Träume mit Keanu Reeves in der Hauptrolle und wache sieben Stunden später erfrischt auf.

Aber dann kam the German Angst. I had Urängste.

I had Existenzängste! Jede Nacht um drei Uhr morgens war ich hellwach, mit Begriffen in meinem Kopf that I ever even knew I knew – wie Berufsunfähigkeitszusatzversicherung und Steuervorauszahlungsänderungsmechanismen und Quereinsteigerstellenangebote. Quereinsteiger! Icke! Ich bin 61! Quereinsteig to what? Ich finde Quereinsteigen ein interessantes Wort. Es klingt für mich wie eine extrem unangenehme Kamasutra-Stellung für very gelenkige Leute.

Wir Amerikaner benutzen gern deutsche Begriffe in the Muttersprache. Schadenfreude zum Beispiel. Wir haben kein englisches Wort dafür. We don’t say damage joy, wir sagen Schadenfreude. Oder Weltschmerz, Poltergeist, Lumpenproletariat, Katzenjammer, Blitzkrieg. Wir benutzen immer deutsche Worte für Dinge, die weh tun.

Im Deutschen ist es umgekehrt. Wir wechseln die Sprache, um etwas zu verharmlosen. SOCIAL DISTANCING zum Beispiel klingt viel freundlicher als ununterbrochene Abstandswahrung. HOME SCHOOLING statt der deutschen Aussage Du bist ab sofort vollkommen allein verantwortlich für die Ausbildung deines Nachwuchses. Viel Glück. Oder HOME OFFICE statt Du bist 24 Stunden pro Tag sieben Tage in der Woche im Dienst – dein Arsch ist Eigentum des Chefs. Viel Spaß dabei. CLICK AND MEET klingt wie eine Datingshow mit Tim Mälzer – oder eine Verabredung auf Tinder.

Irgendwann mitten in der Nacht habe ich gedacht: „Moment! Mir geht es gut! Ich bin eine post-menopausierende weiße Amerikanerin living in Westberlin! In Schöneberg – in Beauty Mountain! I’m gonna be ok! Und ich bin doch deutsch geworden! Ich habe nicht nur Angst, ich habe auch jede Menge Gesundheit, Bodenständigkeit und Durchhaltevermögen!“ Drei meiner all-time favorite Lieblinge, genau wie mein kürzestes deutsches Lieblingswort, zwei kleine Buchstaben mit einer enormen Wirkung: the mighty German SO!

SO! ist kompakt, kräftig und zupackend. SO! Es reißt uns zusammen, es gibt uns ein Ziel, es ist die Essenz der deutschen Seele – pragmatisch und praktisch und hocheffizient! Es gibt meinem Alltag einen Rahmen und eine Bedeutung. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sage ich zu mir „SO!“ und ich fühle mich gleich besser, als ob ich etwas Wichtiges geschafft hätte. SO!!! Es ist die Kraft einer Million deutscher Omas, konzentriert in einem kleinen Wort: SO! Reiß dich zusammen Mädel! Morgen ist auch noch ein Tag! Die Welt dreht sich weiter! Hier, nimm eine Stulle! SO!!!

Oma hat recht. Warum habe ich Angst? Mein Glas ist mehr als halb voll! Was für mich den ultimativen Unterschied zwischen der deutschen und der amerikanischen Kultur aufzeigt – die Frage: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Hier in Deutschland sagen wir oft: „Scheiß Glas.” oder „Damals war das Glas viel voller!“ oder „Die nehmen alle unsere Gläser weg!“ Oder heute gerne auch: „Das ist kein Glas! Ich glaube nicht an Gläser! Die Medien wollen mir erzählen, dass es Gläser gibt!“

In Amerika ist das Glas nicht mehr ein echtes Glas, es ist aus Plastik und wir schmeißen es einfach weg. Jedes Mal neu und jedes Mal wieder.

Nach 30 Jahren in Deutschland the Bodenständigkeit has kicked in. Ich stehe früh auf, gehe raus und drehe eine Runde im Park. Als ich vorletzten Sonntag zu meiner Straßenecke kam, waren keine Autos in Sicht, aber fünf erwachsene Frauen, alle stocksteif fixiert auf die rote Ampel. Das verstehe ich immer noch nicht. In New York geht man einfach über die Straße! It’s the Big Apple, keep it moving!!! Ich habe meinen Bremer Mann gefragt: „What is going on with the rote Ampel?“ und er sagte, der gute Deutsche, der er ist: „You have to be a gute Vorbild for the Schulkinder.“

Das verstehe ich. Letzten Sonntag, 7:30 Uhr morgens, die gleiche rote Ampel, weit und breit keine Autos in Sicht, aber ein sehr hübscher sechsjähriger Junge neben mir. Ich habe gedacht: „I have to be a gute Vorbild, I have to be a gute Vorbild“, so I grabbed him by the hand, ran across the street as fast as I could and said: “Don‘t waste your time, life‘s too short!”

ABOUT GAYLE

Sie ist Entertainerin, Autorin, Sängerin, Kommentatorin und „Germany’s best-known American“, geboren 1960 in Brockton (MA, USA) Ob solo, mit Pianist und Back-up-Sängern oder mit großer Band: Gayle Tufts bringt den Saal zum Toben! 

SOME LIKE IT HEIß

Gayle erzählt von den Wechseljahren als hormonelles Abenteuer, Pubertät mit Vernunft und Chance auf Veränderung. Und gleichzeitig über ihre Mutter – die sie zwar nie in Deutschland besucht hat, aber glücklich über ihr Leben war! 

Verlag Rütten & Loening 2012, 16,99 € 

ISBN 978-3-352-00836-8 

www.gayle-tufts.de

ⓒ Fotos: Pavol Putnoki