Meine Mutter brauchte nicht einmal aufzuschauen, um einen Blick auf meine Spielkarte zu werfen und meinen Fehler zu bemerken. Wir saßen nebeneinander im Cape Cod Senior Residences in Sandwich, Massachusetts beim Bingospiel.
Ich hatte nur eine einzige Bingokarte vor mir, meine Mutter 24. Doch sie hatte alles im Griff. Bingo war ihr Ding, ihr Lebenselixier, sie hatte es im Blut.

Kolumne von Gayle Tufts

Ich hatte nur eine einzige Bingokarte vor mir, meine Mutter 24. Doch sie hatte alles im Griff. Bingo war ihr Ding, ihr Lebenselixier, sie hatte es im Blut.

Verwirrt verglich ich zum zweiten Mal die gezogenen Zahlen, mit denen auf meiner Spielkarte: Ich hatte tatsächlich B-14 übersehen. Meine Mutter war fast 80, hatte grauen Star und trug eine Hornbrille mit Gläsern so dick wie Flaschenböden, aber bei diesem Spiel konnte ihr keiner etwas vormachen. Ich war aufgeputscht von Unmengen von Dunkin Donuts und Kaffee, nachdem ich, wie bei allen meinen Kurzbesuchen in der Heimat, viel zu früh aufgewacht war und mich den ganzen Tag über mit Zucker und Koffein versuchte wachzuhalten. It was all a little überwältigend.

Die Devotionalien, die Ma wie eine Schutzwand gegen Spielerpech um ihre Spielscheine aufgebaut hatte blendeten mich: Familienfotos, Minifiguren von Jesus und St. Jude – „the patron saint of lost causes“, der Schutzpatron für hoffnungslose Fälle – und ein winziges Stück der Berliner Mauer, das ich vor Jahren nach Hause mitgebracht hat, waren bei jedem Bingospiel dabei, ihr imposanter Altar, mit Glücksbringern für jede Gelegenheit. Alle der 100 Seniorinnen hatten ihre Varianten des Schutzengels dabei – ich war fasziniert von dieser Mischung aus Familiengeschichte, Spiritualität und Glücksspiel – wann hörte das eine auf, und wann fing das andere an?

„B-14! You wanna win or what?“

Wenn ich hier mithalten wollte, musste ich das Spiel schon ernst nehmen.

In der Rente hatte sich meine Mutter endgültig in eine Hardcore-Bingospielerin entwickelt. Als sie in das Seniorenwohnheim einzog, wurde es der wichtigste Teil ihres Soziallebens. Fünf mal in die Woche machte sie sich fein im Dress Casual Look – Polyesterhose, Pullover mit etwas Glitzer, Pumps, eine dezente Kette aus Perlenimitat – sie war Julia Roberts in Ocean’s Eleven, genau wie in Las Vegas nur viel früher am Tag: 16 Uhr Einlass für ein 18:15-Spiel.

Und alkoholfrei. Aufregung lag in der Luft, zusammen mit dem besonderen Parfum von Altersheim, eine Mischung aus Desinfektionsmittel, Chanel No. 5 und Kolostomiebeuteln. Das Spiel war auch ein Teil der Beschäftigungstherapie der Senioren – es trainiert die Auge-Hand-Koordination, das Kurzzeitgedächtnis und die Feinmotorik und war daher von der Heimleitung gern gesehen. Die Heiminsassen kamen unter Leute und machten sich fein. Abgesehen von den Donuts die wirklich lecker waren – kannten alle den wahren Grund, warum das Spiel jeden Abend wieder so beliebt und das ganze Heim versammelt war: die Möglichkeit, auf einen Schlag $150 zu gewinnen – steuerfrei.

Meine Mutter was always waiting for the Jackpot. Unser Familienleben war nie exactly stabil zu nennen. Meine Eltern waren liebevoll und selbstlos, aber auch unerfahren und schnell vom Leben zu überwältigen. Einfache, vorhersehbare Dinge konnten sie total überraschen –
Elternabende, Geburtstage oder die monatliche Stromrechnung. Sie beide arbeiteten hart, aber finanziell reichte es selten. Für einen Barkeeper und eine Supermarktkassiererin waren drei Kinder, zwei Autos, ein Haus und ein Hund eine Herausforderung – besonders, wenn man nicht gut im Planen ist. Der Küchentisch war immer von unbezahlten Rechnungen und ungeöffneten Briefumschlägen mit den Großbuchstaben FINAL NOTICE übersät.

Catherine Evelyn Cassidy Tufts, geboren 1923 in Stoughton, Massachusetts, war eine Ehefrau, Mutter, Tante und Pflegemutter. Sie hatte immer etwas für andere Leute getan und erwartete nicht viel – außer, dass sie irgendwann sechs richtige in Lotto hat und alles endlich perfekt wird.

Ich saß neben meiner Mutter und probierte, mich auf meine Karte zu fokussieren, aber ich schaffte es nicht. Die Zeit, die ich mit ihr bei meinen kurzen Aufenthalten hatte, war immer so kurz, dass meine Gedanken schnell grundsätzlich wurden. Wie war ich hier gelandet, neben meiner geliebten Mutter, 3.000 Meilen entfernt von meiner Altbauwohnung in Berlin, der Stadt meiner Wahl? Warum trennte uns mindestens ein Ozean und warum besuchte ich meine Mutter in einem Pflegeheim? Wo ist die Zeit geblieben? Ich suchte nach einer Antwort wie nach den verlorenen Zahlen auf meiner Spielkarte …

„BINGO!“

„Was?“ Meine Mutter schrie in mein Ohr und holte mich aus meinen Träumereien zurück in das Spiel.

„BINGO!“ Sie gab mir einen dicken Schmatz auf die Wange und rutsche auf ihrem Stuhl so weit auf und ab, wie sie nur konnte. Die anderen Seniorinnen applaudierten.

„Congratulations!“, sagte ich, desorientiert und etwas verblüfft.

„It’s you! You WON!“ In ihren strahlenden Augen sah ich, dass Ma mehr Freude an meinem Gewinn hatte, als an all ihren eigenen. Sie schaute mich voller Stolz an, hob meinen Arm hoch und schrie: „That’s my daughter! She lives in Germany!“. Als ob eine Kilometerpauschale zum Preis dazugehören würde.

Als Teenager-Wannabe-Feministin hatte ich mich immer wieder mit meiner Mutter über ihre Lottomentalität gestritten. Bingospielen war passiv, dieses ewige Warten kontraproduktiv. Sie setzte alles auf ihr ungewisses Schicksal, statt zuzupacken und es selbst zu kreieren. Wir Frauen müssen aktiv sein, statt reaktiv! Sie blies den Zigarettenqualm aus und lachte: „Okay, Miss Know-It-All“. Dann spielte sie weiter.

In diesem Moment realisierte ich, was sie bereits alle diese Jahre gewusst hatte – unsere Belohnung kommt fasst nie, wenn wir sie am dringendsten brauchen, aber immer ist das Spiel der Gewinn. Und $150 Preisgeld und kostenlose Donuts dazu waren auch nicht schlecht.

Als wir unter den fröhlichen Blicken der Freundinnen meiner Mutter Hand in Hand den Aufenthaltsraum verließen, drehte sich meine Mutter um und machte eine kleine Verbeugung. „That’s my daughter!“, sagte sie noch einmal, „She lives in Germany!“

ABOUT GAYLE

Sie ist Entertainerin, Autorin, Sängerin, Kommentatorin und „Germany’s best-known American“, geboren 1960 in Brockton (MA, USA) Ob solo, mit Pianist und Back-up-Sängern oder mit großer Band: Gayle Tufts bringt den Saal zum Toben! 

SOME LIKE IT HEIß

Gayle erzählt von den Wechseljahren als hormonelles Abenteuer, Pubertät mit Vernunft und Chance auf Veränderung. Und gleichzeitig über ihre Mutter – die sie zwar nie in Deutschland besucht hat, aber glücklich über ihr Leben war! 

Verlag Rütten & Loening 2012, 16,99 € 

ISBN 978-3-352-00836-8 

www.gayle-tufts.de

ⓒ Fotos: Pavol Putnoki