Armbänder, Ketten, Diademe, Colliers schmücken die Frauen in Katharina Winklers Roman. Der Schmuck ist Zeichen der weiblichen Gemeinschaft und der Herrschaft der Männer. „Blauschmuck“ ist ein Roman über Misshandlungen. Entstanden ist der Text in Prenzlauer Berg.

Text und Fotos: Christiane Kürschner

Filiz’ Geschichte trat vor sehr langer Zeit in das Katharina Winklers Leben. Eine junge Frau kam in die Arztpraxis ihres Vaters in Österreich, um ein Medikament für ihren Mann zu holen. Die Ärmel ihrer Jacke rutschen zurück und kurz werden die Zeichen der Misshandlung sichtbar, der Blauschmuck. Filiz geht danach weiterhin durch die Hölle aus Schlägen, Vergewaltigungen und psychischem Druck. Aber irgendwann entkommt sie, fast totgeschlagen, ihrem Mann und wird mit ihren Kindern zur Freundin der Familie des Arztes.

Jahre später erzählt sie der inzwischen 20-jährigen Studentin Katharina eine Woche lang ihre Geschichte. Die Tonbänder mit dem schweren Stoff bleiben erst einmal liegen. Viele Jahre lang. Bis die Zeit reif ist und Katharina die Geschichte aus Schlägen, Demütigungen und Hoffnungen zu ihrer eigenen macht, die Perspektive ihrer Freundin annimmt und die Erlebnisse in poetische Bilder übersetzt. Mit „Blauschmuck“ gelingt Katharina Winkler ein literarisches Kunststück. Durch die poetische Sprache und eine kompromisslose Übernahme der Perspektive macht sie die Filiz Geschichte lesbar. Der Text ist schrecklich und schön zugleich. Das ist verstörend und doch die einzige Möglichkeit, sich dem Thema literarisch anzunehmen.

Der Blick hinter das Kopftuch

Eine junge Kurdin flieht vor ihrem prügelnden Vater zu ihrem zukünftigen Mann. Sie wird misshandelt, bekommt drei Kinder und landet schließlich mit Mann und Kindern in Österreich. Mit der Zeit lernt sie, ihrem Mann zumindest innerlich etwas entgegenzusetzen. So weit der Inhalt. „Blauschmuck“ erzählt die Geschichte einer inneren Emanzipation ohne jede Wertung und Parteiname. Nur so wird Filiz’ Handeln nachvollziehbar. Durch die Entscheidung für die Ich-Perspektive geht die Autorin einen Schritt, der jede Erwartung, die sich beim Lesen einer reinen Inhaltsangabe einstellen würde, zunichte macht. Filiz wird lesend nicht von außen betrachtet, sondern begleitet. Wenn sie den Blick senkt, senkt der Leser den Blick, wenn sie geschlagen wird, bekommt der Leser einen Eindruck ihrer blauen Flecken. Wenn Yunus den Raum betritt, hält der Leser den Atem an und versucht, nichts falsch zu machen.

„Anders wäre das gar nicht erzählbar gewesen. Ich wollte Filiz eine Stimme verleihen, ihr wurde zuvor niemals Gehör geschenkt“, erklärt Katharina Winkler ihre Entscheidung. Sie als Autorin zieht sich dabei komplett hinter die Figur zurück. „Es war für mich ganz entscheidend, dass man nicht wieder von außen auf sie blickt. Ich wollte jeden Voyeurismus unterbinden. Ich wollte, dass es möglich wird, das alles mitzuerleben und nicht zu analysieren.“ Die Autorin macht es sich selbst und auch dem Leser nicht leicht. Gleichzeitig zeigt sie, dass dies der einige Weg ist, die Geschichte zu erzählen, ohne der Protagonistin Unrecht zu tun. Weil sie dem Leser keine Rückzugsmöglichkeit auf eine intellektuelle Ebene lässt, kann das Klischee nicht greifen.

Eingesperrt

So erlebt der Leser, warum Filiz schlicht nicht anders handeln kann. Als sie Yunus kennenlernt, zeichnet sich bereits ab, was passieren wird. Und doch ist sie stolz und aufgeregt, als der schöne wilde Junge mit Turnschuhen aus Deutschland ausgerechnet sie auswählt und zu seinem Besitz erklärt: „Du gehörst mir. Seine Stimme ist ohne Zweifel.“ Wenig später sperrt der Junge seine Erwählte zum ersten Mal ein. Und sie bebt erwartungsfreudig ihrem Schicksal entgegen. „Die Stalltür fällt ins Schloss. Ich stehe im Dunkel. Bebend. Ich gehöre ihm. Ich habe einen Mann.“ Als sie gegen den Willen der Familie mit Yunus wegläuft und ihn im Haus seiner Mutter heiratet, ahnt sie ‒ zumindest ansatzweise ‒, was sie erwartet. Schon als kleines Mädchen war ihr klar, dass Ehefrauen Blauschmuck tragen. „Der Blauschmuck der Frauen trägt die Handschrift der Männer. Das Werkzeug, Holz oder Eisen, und die Anzahl der Schläge bestimmen den Blauton.“ Filiz ist kein Einzelschicksal, sondern eine unter vielen hundert blauen Frauen im Tal. „Hellblaue Frauen werden zu dunkelblauen, blau-rote zu blau-schwarzen. Dunkelblaue werden zu hellgrauen aber das ist selten, und Frauen, die Blau-Schwarz tragen, wie Ayse, geben die schwere Farbe nicht mehr her.“ Der Blauschmuck, den die Männer ihren Frauen vermachen, ist kein Zeichen der Ausgrenzung, sondern im Gegenteil: ein verbindendes Element. Die Männer prügeln, weil die Frauen in ihren Augen Fehler machen, weil sie ihren Blick oder ihre Stimme heben, weil sie den Anschein erwecken, sich der männlichen Kontrolle zu entziehen. In Filiz’ Logik ist all das nachvollziehbar. Am Ende ist ‒ innerhalb dieser Logik ‒ Blauschmuck noch besser als Nichtbeachtung. Zwar wird über den Schmuck nicht gesprochen, denn er ist „Privateigentum“, aber die Frauen sehen und erkennen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Wer keine Himmelsfarbe am Körper trägt macht sich verdächtig. „Songül ist himmellos und ohne Blau. Wo sie auftaucht, verstummt das Gespräch. Was soll man reden mit einer Himmellosen.“ „Solche gibt es auch“, erklärt die Mutter der jungen Filiz, „leider“. Dieses „leider“, so erzählt die Autorin, ist eines der wenigen Worte, das original aus dem Filiz’ Mund von Filiz stammt, die in Wahrheit natürlich anders heißt.

Geschichten wiederholen sich

Das Mädchen Filiz denkt über die blauen Frauen wie ihre Mutter: „Wenn ich groß bin, werde ich eine blaue Frau. Ich hoffe auf einen Blauton, hell wie der Winterhimmel.“ Tatsächlich wird Filiz eine blaue Frau in den dunkelsten Schattierungen – und zwar lange bevor sie wirklich „groß“ ist. Etwa fünfzehn Jahre alt ist sie, als sie mit Yunus wegläuft und wenig später das erste Kind bekommt. Vielleicht ist sie auch etwas älter oder etwas jünger. So genau ist das nicht geklärt, weil den amtlichen Zahlen nicht zu trauen ist. Filiz’ Vater machte sich nur alle paar Jahre auf den Weg zum Amt, um alle in der Zwischenzeit geborenen Kinder anzumelden. Filiz’ Lebensdaten sind nicht die tatsächlichen Lebensdaten, sondern Angaben von Männern, die keine weitere Bewandtnis für sie haben.

Auch die Autorin interessiert sich nicht für die Daten und Fakten. Der Roman wird nicht davon getragen, sondern von Empathie und radikal subjektiver Wahrnehmung. Deshalb ist er so wahr. Daten und Fakten bleibt Katharina Winkler dem Leser dennoch nicht schuldig. Zum Glück. Im Epilog liefert sie die Fakten nach, die nicht mehr in den Roman gehören. Der Roman endet mit der Erkenntnis Filiz’, die sich halb ohnmächtig von ihrem Mann lossagt: „Du schlägst mich tot, aber du kommst mir nicht nahe.“ In dem Moment beginnt die Rettung und die Emanzipation der jungen Frau. Alles andere, die faktische Emanzipation, kann nur Folge der inneren Emanzipation sein, erklärt die Autorin. Die äußere Emanzipation wird deshalb nur kurz und knapp im Epilog abgehandelt. Filiz kommt für ein Vierteljahr ins Krankenhaus, sie wird von Yunus geschieden, lebt mit ihren Kindern in einem Frauenhaus und beginnt eine Ausbildung. Als Ruhe in der Familie einkehrt, erzählt sie Katharina Winkler ihre ganze Geschichte. Die Kinder sind groß geworden und haben sich beruflich sehr gut entwickelt. Filiz arbeitet als akademische Fachkraft für Sozialpsychiatrie in Österreich. Yunus lebt in der Türkei und hat wieder geheiratet. Seine drei Kinder tragen die gleichen Namen, wie seine Kinder aus erster Ehe.

Katharina Winkler
Geboren 1979 in Wien. Sie studierte Germanistik und Theaterwissenschaften in Wien und kam nach dem Studium nach Berlin. Heute lebt sie in Prenzlauer Berg. Blauschmuck ist ihr erster Roman. Er wurde in fünf Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem Mara-Cassens Preis für das beste deutschsprachige Debüt, sowie dem Prix du roman étranger für das beste fremdsprachige Debüt in Frankreich ausgezeichnet.

Gebundene Ausgabe
Verlag: Suhrkamp Verlag;
196 Seiten
18,95 €
ISBN-13: 978-3518425107