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Zum Tod von Aleksej Navalnyj

nawalny

Das war eine von Aleksej Navalnyjs letzten Botschaften aus dem Gulag, mit krakeliger Schrift auf ein Blatt Papier geschrieben, bevor Putins Schergen ihn am Donnerstag, den 15. Februar 2024, ermordeten.

Ich habe keine Angst.
Habt ihr auch keine Angst

Ein Kommentar von Kerstin Müller | Berlin

Einfach so. Weil Putin es will – eine brutale Machtdemonstration: zum einen nach innen – Widerstand ist zwecklos. Aber auch nach außen, keineswegs zufällig just zu Beginn der Münchener Sicherheitskonferenz, wo die westliche Welt sich einmal jährlich trifft, war Putins Botschaft an uns gerichtet: „Ich werde in der Ukraine weitermachen. Unterschätzt mich nicht. Und wenn ich da fertig bin, dann sind die anderen ‚Abtrünnigen‘ dran – Estland, Lettland, Georgien, Polen usw.“ Und so weiter? Finnland? Schweden? Wer noch? Genau das macht vielen Menschen in Europa und in Russland Angst. Dennoch haben Tausende Russen nach dem Tod Navalnyjs protestiert, haben still Blumen niedergelegt, an den oft verschütteten Gedenksteinen für die Opfer des Stalinschen Gulag. Was für eine Geste! Was für ein Mut!

Irina Scherbakova, Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 den Friedensnobelpreis bekam und inzwischen in Berlin im politischen Exil lebt, sagt mir: „Das war ein politischer Mord auf Raten“. Sie hofft dennoch, dass Navalnyjs Tod wie ein Katalysator wirkt und die Opposition in Russland wachhält. Aber sie fragt auch: „Hier gehen gerade so viele Menschen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie auf die Straße. Aber begreifen sie wirklich den Zusammenhang?“ Und verstehen wir, dass es nicht nur um die rechtsextreme AfD gehen darf, sondern darum, sich einem neuen Faschismus in Person von Putin zu widersetzen, der in Europa mit Gewalt „weitermarschieren“ wird, um sich „zurückzuholen“ was vermeintlich zum „Russischen Reich“ gehört?

Tatsächlich sind in den letzten Wochen die Menschen in Deutschland scheinbar aufgewacht. Tausende gingen auf die Straße – 160 000 in Hamburg, 20 000 in Münster, 350 000 in Berlin, 100 000 in Köln und in München – auch im Osten, wie in Rostock 6500 und in Frankfurt/Oder 4500. Die Liste ist lang, und der Protest geht weiter. Nach den Recherchen des Medienhauses Corrective über einen Geheimplan von AfD-Politikern, Neonazis und finanzstarken Unternehmen, der unter dem Euphemismus „Remigration“ die Vertreibung Millionen Deutscher mit Migrationshintergrund vorsieht, scheint nun auch der Letzte begriffen zu haben, dass wir es bei der AfD nicht nur mit harmlosen „Protestlern“ zu tun haben, sondern mit einem gefährlichen rassistischen und antisemitischen Extremismus von rechts. Dieser ist zu allem bereit, wenn er denn die Macht hätte, ist die Botschaft des Treffens. „Machtzuwachs“ in Form von Wahlsiegen wird die AfD, wenn kein Wunder geschieht, in diesem Jahr bei den drei Landtagswahlen im Osten wohl dennoch bekommen. An diesen Umfragewerten haben leider auch die Demonstrationen nichts geändert. Im Gegenteil, nicht nur Die Grünen, sondern auch die AfD haben nach den Demos einen Ansturm von neuen Mitgliedern im Januar erlebt. Traurig, aber wahr. Immerhin haben die Massenproteste hoffentlich eines erreicht: dass diejenigen in der CDU, die mit einem Bündnis mit der AfD geliebäugelt haben, sich das jetzt nicht mehr trauen dürften. Allerdings bedeutet das wohl, dass nur eine Allparteienkoalition die AfD an der Macht verhindern kann. Schauen wir mal, wieviel Rückgrat die CDU am Ende hat.

Die AfD sitzt auf Putins Schoß

Allerdings hat Irina Scherbakova wohl recht mit ihrer Vermutung, dass die meisten Teilnehmenden der Protestdemos sich der außenpolitischen Dimension einer starken AfD und der Gefahr, die von Putins Regime für unsere Demokratie ausgeht, nicht bewusst sind. Schon seit Jahren suchen die AfD-Führung, wie Gauland, aber auch rechtsextreme Abgeordnete, wie etwa Markus Frohnmaier, die enge Tuchfühlung mit Moskau. Bereits 2015 trafen sie auf einer Reise in Sankt Petersburg den Putin-Vertrauten Alexander Dugin, den faschistischen Chefideologen Putins, der als Vordenker der neo-eurasischen Ideologie gilt und eine Schlüsselfigur in einem Netzwerk antiwestlicher Bewegungen und Parteien ist. Frohnmaier, der bis Februar 2018 Chef der Jungen Alternative war, die noch radikaler ist als die AfD, reist als Mitglied des Entwicklungsausschusses auch gern auf die Krim und in den Donbass. Er kommentierte Putins Annexion der Krim mit einem Glückwunsch auf seiner Facebook-Seite. Gleichzeitig handelt sein neues Buch von – Zitat: „Linken Lügen, Massenmigration und korrupten Eliten“.

Er ist keine Ausnahme in der AfD. Politisch und strategisch sitzt die Partei auf Putins Schoß, auch weil ihre Wählerinnen und Wähler das goutieren: 2014 waren 79 Prozent (!) ihrer Anhänger nach der Annexion der Krim gegen Sanktionen gegen Russland und im aktuellen Politbarometer sind nur 16 Prozent der AfD-Wählerinnen und -Wähler für mehr Waffen an die Ukraine, während eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das befürwortet, u. a. 90 Prozent der Grün-Wähler (Forschungsgruppe Wahlen). Was heißt das nun?

Müssen wir aus Angst vor den potenziellen Wählerinnen und Wählern der AfD nun auch den Kotau vor Putin machen? Leider setzt das Zaudern des Bundeskanzlers Scholz gegenüber weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine genau dieses falsche Signal. Angst vor der AfD, aber vor allem: Angst vor Putins Krieg.

Angst ist ein schlechter Berater

Irina Scherbakowa und andere, die vor Putins Regime ins Exil flohen, warnen davor: Wenn die Ukraine nicht siegt, steht alles auf dem Spiel. Wer wie der Kanzler glauben mag, dass Putin nach einer Teilung der Ukraine vor unseren Toren haltmacht, der irrt. Putin versteht nur eine Sprache, und das ist die entschiedene und volle Gegenwehr. Wenn wir dem Regime jetzt nicht zeigen, dass wir um jeden Preis seinem neuen Faschismus Einhalt gebieten werden, dann wird er weitermachen. Er wird weder vor der EU-noch vor den NATO-Mitgliedstaaten haltmachen.

Wenn wir also morgen wieder für Demokratie und gegen rechts auf die Straße gehen, dann sollten wir begreifen, dass es um sehr viel mehr geht – eigentlich um alles: Die internationale Ordnung und der Frieden in Gesamteuropa stehen in der Ukraine auf dem Spiel. Es ist schon lange nicht mehr ihr Krieg. Es ist – leider – auch unser Krieg.

Und um Aleksej Navalnyj aus seiner letzten Videobotschaft zu zitieren: „Das Einzige, was gute Menschen für den Sieg des Bösen tun müssen, ist nichts. Also tut eines nicht: Nichts!

Kerstin Müller Staatsministerien a.D.

Kerstin Müller

Staatsministerin im Auswärtigen
Amt a.D. (2002-05)
MdB Bündnis 90/Die Grünen 1994-2013, davon u.a. 8 Jahre Fraktionsvorsitzende
Senior Associate Fellow der DGAP,
Kuratorium Aktion Deutschland hilft,
Beiratsmitglied von ELNET

von 2013–2018 Leiterin des Israel Büros der
Heinrich-Böll-Stiftung